Donnerstag, 14. Oktober
Paratí - Cunha (ca. 50km)
Als gegen Ende des 17. Jahrhunderts im heutigen Minas Gerais reiche Gold- und Diamantvorkommen entdeckt wurden stellten sich 2 Probleme: Erstens, wie kommt man durch das unwegsame Gelände überhaupt dort hin, und zweitens, viel wichtiger für die portugiesischen Kolonialherren, wie kann man die ausgebuddelten Reichtümer zwecks Einverleibung in den Staatsschatz am besten kontrollieren. Das Ergebnis war das, was später als „Estrada Real“ bekannt wurde: Ein verzweigtes Netz aus Wegen, Pfaden und Kontrollposten, über die alle Bewegungen zu laufen hatten. Lange Zeit war Paratí Ausgangs- bzw. Endpunkt der Estrada Real, von wo aus man entweder per Schiff weiter nach Rio oder direkt nach Portugal reisen konnte. Erst viel später gelang es, das unwegsame Küstengebirge direkt von Rio aus zu überwinden. Mit Eröffnung des „Caminho Novo“ fielen Paratí und die zahlreichen Siedlungen entlang des „Caminho Velho“ in Vergessenheit.
In etwa dieser „alten“ Route mit all den historischen Kolonialstädtchen möchte ich nun auf den nächsten 1400 Kilometern nach Ouro Preto und Diamantina folgen.
Wie schon vor dreihundert Jahren steht auch heute noch die Serra do Mar wie eine Mauer im Weg. Von den Traumstränden Paratís aus gilt es, auf 1460 Meter hinauf zu kurbeln. Nun denn. Immerhin habe ich verdammtes Glück mit dem Wetter. Nachdem gestern die Sonne vom Himmel gebrannt hat ist es heute wieder angenehm bewölkt. Warm ist es trotzdem noch, und so bin ich schon wieder klitschnaß geschwitzt, bevor der Anstieg erst richtig beginnt.
Auf den ersten Kilometern ist die Straße noch geteert. Je höher man klettert desto schmaler wird sie, bis es irgendwann auf Schotter weiter geht. Viel anders dürfte es hier zu Zeiten des Goldrauschs auch nicht ausgeschaut haben.
Vom Atlantischen Regenwald, der ehemals weite Teile der brasilianischen Küste bedeckte, ist heute anderorts nicht mehr viel übrig geblieben. Hier oben im Nationalpark „Serra da Bocaina“ fährt man mitten durch eines der letzten zusammenhängenden Gebiete. Das herrliche Grün des Regenwaldes, Wasserfälle, die neben der Piste herunter rauschen und der weite Blick hinunter in die Bucht von Paratí, so macht Rad fahren auch bei 30 Grad Hitze und 15% Steigung Spaß.
Weiter oben geht es durch eine dicke Nebelschicht, man sieht kaum die Hand vor den Augen. Einsam ist es, die entgegenkommenden Fahrzeuge kann man an einer Hand abzählen. Nach 5 Stunden Kletterei ist es geschafft. Am Paß auf 1460 Meter ist es auch wieder heller, man befindet sich weit oberhalb der Nebelschicht. Hier verläßt man den Bundesstaat Rio de Janeiro und wechselt nach São Paulo über. Schlagartig ändert sich auch die Landschaft. Der Nationalpark endet hier, und damit auch der Wald. Eine hügelige Weidelandschaft dominiert nun das Bild, nur noch vereinzelt haben sich ein paar Waldflecken halten können.
Ich hatte ja gehofft, mich nun bis Cunha bergab rollen lassen zu können, aber weit gefehlt. Es gilt noch einige steile Hügelketten zu überwinden, bis ich mitten im größten Platzregen im Ort eintreffe.
Freitag, 15. Oktober
Cunha - Passa Quatro (ca. 115km)
Nach dem stundenlangen Regen gestern Abend glich der Ort einer Geisterstadt. Und auch jetzt scheint es keine menschliche Seele weit und breit zu geben. Als ich nämlich früh um halb 7 startklar mein Zimmer verlassen will, finde ich die ganze Pousada verrammelt und verriegelt vor. Erst nach längerem rufen und klopfen kommt von irgendwo her die Dame das Hauses angeschlichen, schläfrig und im Nachthemd, die noch nicht so recht zu verstehen scheint, was los ist. Abreisen will ich. Wie? Was? Um die Uhrzeit? Das ist völlig unmöglich. Frühstück gibt es erst ab 8. Macht nix, dann fahr ich halt ohne Frühstück los. Ja, aber die „Mininha“ käme erst um 8 und vorher gäbe es nichts. Ist doch egal, ich will ja nichts, außer hier zur Tür raus. Ja, aber die wäre doch noch zugesperrt. Ja, eben, deswegen bin ich ja noch hier, und ich wäre sehr dankbar, wenn mir jetzt jemand aufsperren würde. Heijeijei. Und das in São Paulo. Wo doch in ganz Brasilien erzählt wird, wie fleißig und arbeitsam die Paulistanos wären. Und jetzt schlafen sie noch länger als ihre Nachbarn drüben in Rio.
Um 7 Uhr schläft noch ganz Cunha. Kein Mensch, kein Tier, kein Auto, ich habe die ganze Straße für mich allein. Das ist schon seltsam. Nicht, das ich nicht auch gerne mal lang ausschlafen würde, aber wenn ich mich hier an die offiziellen Frühstückszeiten halten würde, würde ich den halben Tag versäumen, denn um halb 6 wird es ja schon wieder dunkel.
Bis zum Paraibatal geht es noch über etliche Hügelketten. Irgendwo auf freier Strecke kommen mir sogar mal 3 Radlerinnen entgegen, in topmodischem Outfit und mit modernstem Gerät. Ich winke ihnen fröhlich entgegen, aber sie tun so als hätten sie mich nicht gesehen. Na ja, verständlich. Ich habe ja schließlich nur ein billiges Kaufhausrad und muß mein Gepäck auch noch selber schleppen. Sie haben, wie ich nach der nächsten Kurve feststelle, ein Begleitfahrzeug, das ihnen ihre isotonischen Getränke, Energieriegel und was weiß ich was man so alles braucht hinterher fährt. Scheinen für irgendein Radrennen zu trainieren. Tja. Als ich gerade meinen Flüssigkeitsvorrat an einer Quelle am Straßenrand auffülle kommen sie schon wieder zurück, wortlos. Das lasse ich mir nun nicht bieten. Die werden jetzt überholt. Mit nur einer Hand am Lenker, mit der anderen mache ich ja gerade Brotzeit...
Unten im Paraibatal verläuft die „Dutra“, das ist die Autobahn zwischen Rio und São Paulo. Im ganzen Tal hat sich entlang dieser Autobahn jede Menge Industrie angesiedelt. Was für ein Kontrast zur Küstenstraße und dem ruhigen Bergsträßchen, das ich bis hierher gefahren bin. Hier möchte ich so schnell wie möglich wieder raus, und am schnellsten geht es immer noch über die Autobahn. 50 Kilometer radle ich auf der Dutra, interessanterweise zurück in Richtung Rio, bis ich „meine“ Abzweigung hoch in die Serra de Mantiqueira erreiche.
Wie fast jeden Nachmittag schüttet es auch heute wieder. Im strömenden Regen und durch dichten Nebel geht es bergauf. Gespenstisch, dieses Brummen und die erst im letzten Moment auftauchenden Scheinwerfer, wenn mir da auf der Bergstraße ein Lkw entgegen kommt.
Als ich die Paßhöhe erreiche ist es schon dunkel. Eine Marienstatue markiert die Grenze zwischen São Paulo und Minas Gerais, von hier aus sind es noch rasante 10 Kilometer bergab durch die Nacht bis zum nächsten Ort, Passa Quatro.
Samstag, 16. Oktober
Passa Quatro - Cruzília (ca. 80km)
Der gestrige Abend wurde doch noch recht anstrengend. Cesar, der Besitzer der Pousada „São Rafael“ ist in der örtlichen Radlerszene aktiv und hat es sich nicht nehmen lassen, mich abends noch in eine Churrascaria auszuführen. Früh entdecke ich zudem noch, das die Pousada sogar einen Pool hat, da wird natürlich erst mal eine Runde geschwommen, dann ausgiebig gefrühstückt, bevor es wieder in den Sattel geht.
Eine gute Stunde habe ich noch Ruhe auf „meinem“ Sträßchen durch die „Terras Altas“ von Mantiqueira, dann muß ich bis Caxambu vorübergehend auf eine etwas stärker befahrene Straße. „Stark“ ist natürlich relativ. In Deutschland hätte ich mit der hiesigen Verkehrsdichte kein Problem, aber vor den Fahrkünsten der Brasilianer habe ich einen Heidenrespekt. Nicht von ungefähr heißt hier jede zweite Fahrschule entweder „Formula 1“ oder „Ayrton Senna“. Und wie ihr großes Vorbild enden auch viele Brasilianer früher oder später am Brückenpfeiler. 30.000 pro Jahr.
Da ich auf der „Hauptstraße“ viel zu schnell unterwegs bin erreiche ich Caxambu, das ich mir eigentlich als heutiges Etappenziel ausgesucht habe, bereits am späten Vormittag. Hm, was jetzt? Ist ja ein freundlicher Ort, mit einem schönen Kurpark, das Wasser, das man dort aus diversen Mineralquellen zapfen kann, wird in aller Herren Länder exportiert, aber um 12 Uhr schon das Rad in die Ecke stellen, ich weiß nicht...
Nach längerem Zögern fahre ich doch noch weiter. Die Abzweigung nach Baependi ist unauffindbar, mit Straßenbeschilderung haben sie’s hier nicht so, und auf drei mal Nachfragen erhalte ich vier verschiedene Antworten. So lande ich am Nachmittag in Cruzília, einem kleinen Provinznest, in dem der Hund begraben scheint. Genau das Richtige für einen zünftigen Samstag Abend.
Ein kleines Nest in Brasilien kann unter der Woche noch so verschlafen wirken, Samstags wird das alles nachgeholt. Abends ab 10 füllen sich langsam die Gassen. Um Mitternacht ist die Hölle los, und ich bin mitten drin.
Sonntag, 17. Oktober
Cruzília
Nachdem ich ja schon mehrfach früh vor verschlossenen Hoteltüren stand habe ich gestern die Chefin vorgewarnt, das ich so gegen 7 abzureisen gedenke. Daraus wurde leider nichts, denn ich komme erst morgens um 8 zurück ins Hotel. Die staunt nicht schlecht, als ich rein statt raus gehe.
Ein kurzes Schläfchen sei mir noch gegönnt. Doch als ich um 11 gerade meine Sachen packen will hupt doch tatsächlich ein Auto vor der Tür. Die Truppe, mit der ich gestern versumpft bin, hat nämlich was von einer Fazenda erzählt, zu der sie mich heute mitnehmen würden, aber viel habe ich darauf nicht gegeben. Verabredungen haben bei Brasilianern ja ehr unverbindlichen Charakter.
Aber jetzt bin ich heilfroh, heute nicht radeln zu müssen, zumal die Sonne erbarmungslos vom Himmel sticht. Auf der Fazenda gibt es eine Bar und einen Pool, und es wird abends wieder sehr spät. Immerhin erfahre ich auf dem Rückweg, wo ich gestern nach Baependi hätte abbiegen müssen.
Montag, 18. Oktober
Cruzília - Madre de Deus de Minas (ca. 90km)
In Brasilien ist es wie in ganz Südamerika nicht einfach, brauchbare Landkarten aufzutreiben. Ich verwende zur groben Übersicht die „Brasilien“-Landkarte vom RV-Verlag im Maßstab 1:4 Mio. Dann gibt es im Internet die Seite der Straßenbaubehörde DNER , auf der sich relativ zuverlässige Straßenkarten pro Bundesstaat herunterladen lassen. Käuflich zu erwerben gibt es dann noch vor Ort den „Guia 4 Rodas“, der ist vergleichbar mit den DNER-Karten, ab und zu gibt es mal ein Sträßchen, das in der anderen Karte fehlt und umgekehrt. Heute wollte ich eigentlich die Route über Carrancas fahren. Die Serra de Carrancas mit ihren zahlreichen großen Wasserfällen soll sehr schön sein. Carrancas selbst ist auch in der Karte eingezeichnet... allerdings ohne eine einzige Straße dorthin. Natürlich habe ich mich in den vergangenen Tagen schon umgehört und herausgefunden, das es natürlich doch eine Piste gibt, irgendwie müssen die Leute ja dort hin und wieder weg kommen... nur, den Weg zu finden wird nicht leicht sein. Und Leute zum fragen findet man in der dünn besiedelten Gegend hier nun mal nicht an jeder Abzweigung.
Schade, also geht es doch in weitem Bogen „außen herum“ um die Serra. Womit nicht gesagt sein soll, das es da keine Hügel gäbe. Die Straße ist zum größten Teil geteert, es ist kaum was los, und landschaftlich habe ich hier sicherlich auch keine schlechte Wahl getroffen.
Bis São João del Rei ist es für heute etwas zu weit, ich habe mich darum auf eine Nacht im Zelt eingerichtet. Doch als ich am Nachmittag gerade an Madre de Deus vorbei fahre, fängt es wieder mal an zu schütten. Auf der Straße kommt mir ein wahrer Sturzbach entgegen, da ist natürlich schlecht radeln,und zelten macht so auch keinen richtigen Spaß.
Die typische Dorfkneipe in Brasilien ähnelt einer größeren Garage, verfügt über ein paar Blechtische und Stühle, einen Kühlschrank, eine Theke mit Salgadinhos und Keksen, eine Pinga-Zapfanlage und – ganz wichtig- einen Billardtisch. Ein paar hundert Meter voraus entdecke ich ein Prachtexemplar dieser Gattung, da flüchte ich mich klitschnaß rein. Noch ist nicht viel los, aber so nach und nach kommen von überhall her noch mehr patschnasse Gestalten hereingeschneit. Kurze Zeit später ist der Schuppen zum Bersten voll. Von den 10 Billard- bzw. "Sinuca"-Spielen, zu denen ich genötigt werde, kann ich durch Zufall und nach mehreren Runden des hauseigenen Zuckerrohrschnapses sogar eines für mich entscheiden. Der Regen hat längst wieder aufgehört, aber mit der Begründung „es fängt bestimmt gleich wieder an...“ verlängert der der eine oder andere seine Ausgangszeit. Um Mitternacht geleitet mich Daniel – mein Doppel-Partner beim Sinuca – hoch zur Praça, wo mir überraschenderweise gleich zwei schöne Hotels zur Auswahl stehen.
Dienstag, 19. Oktober
Madre de Deus de Minas - São João del Rei (ca. 50km)
Cesar von der Pousada in Passa Quatro hat mir eine Pousada in São João del Rei und die Stadt als solches wärmstens empfohlen. Warum es „del Rei“ und nicht „do Rei“ heißt habe ich nie herausgefunden, vielleicht hieß das ja früher so auf portugiesisch. Der „Rei“ war jedenfalls Dom João V. von Portugal, heilig war der allerdings nicht. Da nur knapp 50 Kilometern zu fahren waren komme ich bereits am frühen Vormittag an und steuere direkt die empfohlene Adresse an. Und wirklich, für umgerechnet 20 Euro bekomme ich in der stilvoll eingerichteten Pousada ein riesiges Zimmer, ein Pool fehlt natürlich auch nicht.
Zum Schwimmen ist jetzt aber keine Zeit. Nach einer schnellen Dusche begebe ich mich sofort runter zum Bahnhof, denn gegen Mittag soll da die berühmte „Maria Fumaça“, eine alte Dampfeisenbahn, die historische Strecke nach Tiradentes fahren. Das möchte ich mir natürlich nicht entgehen lassen. Doch als ich mich dem Bahnhof nähere ist es dort verdächtig ruhig. Alles verrammelt und verriegelt. „Der Zug fährt Freitags, Samstags, Sonntags und an Feiertagen” steht da auf einem Schild zu lesen. Tja, Nebensaison, Pech gehabt.
Alternativ fahre ich dann mit dem Bus nach Tiradentes, doch der fährt nicht die historische Strecke entlang der Bahnlinie, sondern hinten rum über die Hauptstraße. Die wird zu allem Überfluß auch noch frisch geteert, so das ich für die 14 Kilometer fast eine Stunde brauche. Da wäre ich mit dem Rad aber schneller gewesen.
Tiradentes selbst ist jedoch alle Mühen wert. Allein die Lage unterhalb der riesigen Felsformationen der Serra de São José ist einzigartig, hinzu noch die alten Häuschen und die gepflasterten Gäßchen. Tiradentes hieß ursprünglich Arraial da Ponta do Morro und war der Geburtsort des brasilianischen Nationalhelden Joaquim José da Silva Xavier. Allerdings kennt ihn niemand unter diesem epischen Namen. Wenn er nicht gerade für die Unabhängigkeit Brasiliens von Portugal kämpfte betätigte er sich als Zahnzieher, und unter diesem Namen ging er später auch in die Geschichte ein.
Zurück in São João ärgere ich mich ein wenig, das ich wegen dieser blöden geplatzten Bahnfahrt nicht in Tiradentes übernachtet habe. São João ist zwar auch eine schöne alte Kolonialstadt, für meinen Geschmack aber schon wieder viel zu groß und ohne den verträumten Flair von Tiradentes. Zumindest entschädigt mich die Unterkunft für einiges, bis spät am Abend lasse ich mich im Pool treiben und strapaziere den hoteleigenen Getränkevorrat.
Mittwoch, 20. Oktober
São João del Rei - Lagoa Dourada
Sämtliche Orte, die ich heute ansteuern möchte, haben eines gemein: Obwohl sie ja offiziell an der alten „Estrada Real“ liegen, scheint es auf sämtlichen mir zur Verfügung stehenden Landkarten keine reale Estrada zu geben.
Zum Glück habe ich von Cesar aus Passo Quatro noch eine halbwegs brauchbare Wegbeschreibung. Die 14 Kilometer nach Tiradentes fahre ich über eine alte, teils gepflasterte, teils unbefestigte Straße entlang des Rio das Mortes. Tiradentes habe ich ja gestern schon gesehen, also geht’s nach einer kurzen Verschnaufpause weiter nach Bichinhos. Es ist wieder mal knackig warm, die unbefestigte Straße geht über Berg und Tal und Stock und Stein.
Zu Mittag essen wollte ich eigentlich erst in Prados, aber in Bichinhos wird mir ein kleines, unscheinbares Restaurant empfohlen, in dem traditionelle „Comida Mineira“ vom Holzofen serviert wird. Und wirklich, so gut habe ich schon lange nicht mehr gegessen, die Köchin kümmert sich um jeden einzelnen Gast persönlich und man kann sich in der Küche Nachschlag holen so viel und wovon man will. Am Nebentisch sitzen 3 Damen mittleren Alters, die sich mir als „Die lustigen Witwen von Taubaté“ vorstellen. Die sind seit ein paar Tagen von São Paulo aus mit dem Auto unterwegs und haben sich bis Ouro Preto die gleiche Route vorgenommen wie ich. Aber mit dem Rad würde ich da natürlich, wenn überhaupt, dann erst in mehreren Monaten ankommen, meinen sie.
Mit viel zu vollem Magen rumple ich weiter nach Prados, wo ich mich nach der Piste nach Casa Grande, der nächsten Station auf der Estrada Real, durchfrage. Nachdem ich mehrere übereinstimmende Auskünfte erhalten habe strample ich los, doch schon nach kurzer Zeit kommen mir Zweifel. Richtungsmässig fahre ich viel zu weit nach Westen. Zum Fragen gibt es hier keine Menschenseele und den steilen Weg zurück nach Prados möchte ich mir auch nicht noch einmal antun. So strample ich bei einem strammen Gegenwind über eine Hochebene, die sich an die Rückseite der Serra de São José anzuschließen scheint. Somit ist klar, das man mich wohl doch über die Hauptstraße und Lagoa Dourada geschickt hat, anstatt über den direkten Weg. Als ich die Hauptstraße erreiche entnehme ich einem Schild „São João, 15 km“. Jetzt habe ich also den ganzen Tag damit verbracht, die Berge von São José zu umrunden, nur um 15 Kilometer nördlich meines Ausgangspunktes wieder auf der Hauptstraße aufzuschlagen.
Durch den 90 Grad Richtungswechsel an der Abzweigung bläst der Wind nun immerhin nur noch als Seitenwind, dafür gesellt sich aber noch ein elender Sprühregen dazu, und es ist empfindlich kühler geworden. Nachdem ich den ganzen Vormittag geschwitzt habe was das Zeug hält packe ich nun zum ersten mal meine Regenjacke aus. Am späten Nachmittag quartiere ich mich in Lagoa Dourada ein, das aus irgendeinem Grund in ganz Minas für seine Rocamboles, eine Art Biscuitrolle berühmt ist. Menschenleer und bei kaltem Regenwetter hinterläßt der Ort leider nur einen trostlosen Eindruck, und eine pappsüße Biscuitrolle auf nüchternen Magen ist auch nicht der Renner.
Donnerstag, 21. Oktober
Lagoa Dourada - Ouro Branco (ca. 120 km)
Über Nacht ist das Wetter noch mieser geworden. Als ich frühmorgens aus dem Fenster blicke sehe ich Wolken und Nebelfetzen vorbeihuschen, es ist eisig kalt und es regnet.
Dennoch habe ich mir die Route über Casa Grande und Queluzita nicht ausreden lassen. Von meinen netten Wirtsleuten habe ich eine relativ brauchbare Wegbeschreibung bekommen, zumindest für die ersten 10 bis 15 Kilometer. Obwohl auch sie immer wieder betonten, das es über die Hauptstraße viel schneller und angenehmer wäre. Das weiß ich, aber das wissen auch die zahlreichen Auto- und LKW-Fahrer.
Gleich am Ortsende geht es als Dreckpiste weiter. Leicht bergauf und auf schlüpfrigem Untergrund geht es etwas schwerer voran, aber das laute Keuchen, das kann unmöglich von mir stammen!! Als ich mich umdrehe sehe ich ein paar Meter hinter mir einen Typen mit Axt und Kettensäge auf mich zu rennen. Ich will schon in Grundstellung gehen, um ihn gebührend zu empfangen, doch wie sich herausstellt ist es nicht Jason mit der Kettensäge, sondern ein Waldarbeiter, der verschlafen hat und jetzt eiligst zu seiner Arbeitsstelle kommen muß. Die liegt auf meiner Strecke, so daß ich einen Führer und „Jason“ einen Kettensägenspediteur hat.
So, doch danach wird’s schwierig. „Noch ein paar Kilometer geradeaus, dann links, Wechselschritt, drei aufnehmen, eins fallen lassen, fünfmal im Kreis drehen und am 4 „Mata-burros“ wieder rechts“, so ungefähr lautet die Wegbeschreibung. „Mata-burros“, so habe ich inzwischen gelernt, sind die Viehgatter, mit denen die einzelnen Weidegebiete, durch die die Piste führt, voneinander abgetrennt sind. Die sind meistens aus dickem Knüppelholz selbstgebastelt, und der Abstand zwischen den einzelnen Balken variiert beliebig zwischen 5 und 50 Zentimetern, so das sie nicht nur Esel, sondern auch unvorsichtige Radfahrer töten können.
Bald befinde ich mich jedoch soweit abseits, daß es nicht einmal mehr Viehgatter gibt, sondern man alle paar Kilometer ein als Tor dienendes Stacheldrahtgeflecht aufdröseln muß. Bin ich hier wirklich noch auf dem rechten Pfad? Zum Fragen gibt es hier niemanden mehr, am Sonnenstand kann ich mich heute leider auch nicht orientieren, höchstens an der Richtung aus der mir der eisige Wind ins Gesicht peitscht. Ein Navi oder zumindest ein Kompaß wäre jetzt nicht schlecht. Aber am Horizont, da entdecke ich etwas: eine Stromleitung! Die dürfte meinem Gefühl nach grob in die richtige Richtung führen, und wo sollte die anders enden als in Casa Grande?
Also, ab sofort immer die Piste, die näherungsweise in Richtung der Leitung verläuft. „Piste“ ist eigentlich übertrieben, denn worauf ich hier fahre ist kaum mehr als ein Trampelpfad. Aber meine Strategie geht auf. Nach und nach wird der Pfad wieder breiter, dann wird wieder eine richtige Piste draus, und ohne Vorwarnung taucht plötzlich Casa Grande hinter einem Hügel auf. Das dürften jetzt Luftlinie keine 30 Kilometer gewesen sein, gefahren bin ich jedoch mindestens das doppelte, und damit ist auch schon der halbe Tag verbraten.
Mittagspause mache ich trotzdem erst in Queluzita, 20 km weiter über eine schöne kleine Teerstraße zu erreichen. In Queluzita treffen der „Caminho Velho“ aus Paratí und der „Caminho Novo“ aus Rio de Janeiro aufeinander. Es soll hier auch einige interessante historische Gebäude geben, aber bei der Kälte heute habe ich keine große Lust, auf Entdeckungstour zu gehen. Ich kann mich nicht erinnern, in Brasilien jemals gefroren zu haben, aber heute ist es wirklich unangenehm. Und ich habe außer einer Regenjacke und einer langen „Ausgehhose“ nur kurze Sommersachen dabei. Brrrrr.
Doch bald wird mir ordentlich warm, denn um die Straße nach Ouro Preto zu erreichen muß ich für ca. 15 km auf die BR 040, das ist die Bundesstraße von Rio nach Belo Horizonte und Brasilia. Zu meinem großen Entsetzten muß ich dort das Fehlen eines Seitenstreifens feststellen. Eigentlich wollte ich ja sogar noch ein paar Kilometer länger hier fahren, um einen Abstecher nach Congonhas zu machen, wo es die Statuen des Aleijadinhos zu bewundern gäbe. Aber bei dem Verkehr hier könnte mich nicht einmal der göttliche Beistand der 12 Propheten zu einem Umweg verleiten.
Endstation für heute ist Ouro Branco, wo es auch wieder wesentlich ruhiger zugeht. Dennoch muß ich kurz vor der Ortseinfahrt scharf bremsen, da mir der Weg von einem Kleinwagen abgeschnitten wird: Es sind die drei Damen, die ich gestern in Bichinhos im Restaurant getroffen habe. Ha, von wegen einen Monat bis Ouro Preto. Nur für heute, da wird es etwas knapp. Es sind zwar nur noch 40 km, aber die sollen es in sich haben.
Die Einladung zum Abendessen in Ouro Preto nehme ich aber trotzdem an. Nachdem ich mich in Ouro Branco einquartiert habe fahre ich einfach für ein paar Pfennig mit dem Bus hinterher...
Freitag, 22. Oktober
Ouro Branco - Ouro Preto (ca. 40km)
Das war vielleicht eine Schnapsidee, abends auf ein Bier nach Ouro Preto zu fahren. Für die 40 Kilometer hat selbst der „Expresso“ fast eine Stunde gebraucht. Das gibt eine leichte Vorahnung auf das, was einem hier bevorsteht. Gleich nach Ouro Branco geht es dermaßen steil den Berg hinauf, das einem selbst das schieben schwer fällt.
Aber die Landschaft ist natürlich Entschädigung genug. Wälder, Wasserfälle, und immer wieder historische Überbleibsel der alten Strecke. Die Straße ist erst vor ein paar Jahren geteert worden, und so erlaube ich mir zwischendurch immer wieder mal den Spaß, auf die alte Strecke auszuweichen, die sich etwas geschwungener und eleganter über die Berge zieht. Maximal auf 1400 Meter klettert man hier, das sind gerade mal 400 Meter über Ouro Branco, aber man klettert das nicht nur einmal, sondern es geht andauernd auf und ab. So ist es nicht verwunderlich, das ich für die 40 Kilometer fast den ganzen Tag brauche.
Ouro Preto, vormals „Vila Rica“, war bis 1897 Hauptstadt von Minas Gerais. Durch den plötzlichen Umzug der Regierung nach Belo Horizonte konnte sich die kolonialen Atmosphäre von Ouro Preto relativ unverfälscht erhalten. Wären da nicht die vielen knatternden Autos und Mopeds oder die englisch radebrechenden Touristenschlepper, so würde man sich tatsächlich in ein längst vergangenes Jahrhundert zurückversetzt fühlen.
Seit 1981 weiß das auch die UNESCO, die Ouro Preto zum Weltkulturerbe erklärt hat. Mit seinen vielen Kirchen, den steilen Kopfsteingassen, den vielen historischen Gebäuden, seinem einmaligen Studentenleben, den Goldminen und vor allem der reizvollen Umgebung hat sich Ouro Preto diese Auszeichnung wahrlich verdient.
Auf der Praça im Zentrum feiert gerade ein munteres Grüppchen ihr bestandenes Bergbaudiplom in der hier ansässigen Bergbauschule, und die lassen mich erst spät in der Nacht und nach Vernichtung ihres Getränkevorrats nach einem Zimmer suchen. Ein würdiger Abschluß dieser Etappe.