Sonntag, 10. Oktober
Rio de Janeiro - Itaguaí (ca. 80km)
Um es gleich mal vorweg zu nehmen: Rio ist so ziemlich der bescheuertste Ort, um eine Radtour zu beginnen. Nicht etwa, weil man mit dem Fahrrad nicht zurecht kommen würde, im Gegenteil: Es gibt hier fast 130 Kilometer Radwege, eine Seltenheit in Südamerika. Das Problem ist: Hier ist es so schön, das man einfach nicht mehr weg will !
Der Zuckerhut, der Corcovado, die Gleitschirmflieger in São Conrado, abends unzählige Kneipen und Restaurants, ganz zu Schweigen von den Stränden...
Doch nach 3 Tagen in Rio geht’s endlich los. Heute ist Sonntag, ideal für den ersten Tourentag, denn Sonntags wird die Avenida Atlantica (das ist die 6-spurige Hauptstraße direkt am Strand entlang) für den motorisierten Verkehr gesperrt. Als ich gegen 9 endlich das Hotel verlasse ist schon fast kein Durchkommen mehr, die Straße ist komplett von Fußgängern, Joggern und Radfahrern in Beschlag genommen worden.
Ein paar Kilometer weiter in Ipanema und Leblon das gleiche Bild, Fußgänger und Radfahrer so weit das Auge reicht, und zur Linken immer wieder diese verführerischen Strandkiosks mit ihren Kokosnüssen und dem eiskalten Bier.
Aber das will erst mal verdient sein: Voraus liegt die Favela da Rocinha, das angeblich größte Elendsviertel der Welt. Da muß ich dran vorbei, um weiter nach São Conrado zu kommen. Einheimische Radfahrer tischen einem zu der Gegend gerne Horrorgeschichten von aufgeschlitzten Kehlen und abgeschnittenen Köpfen auf. Ist aber alles halb so wild, die Straße geht direkt an der Steilküste entlang und berührt die Siedlungen nur an einem kleinen Randgebiet. Ich habe manchmal den Eindruck, die vielen Radfahrer in ihrem Top-Outfit fahren immer nur „ihren“ Strand auf und ab.
Am Drachen- und Gleitschirmlandeplatz in São Conrado gönne ich mir die erste Pause, dort an der Fliegerbar gibt es ein hervorragendes Açai. Die Jungs starten 500 Meter höher am Pedra Bonita, gelandet wird direkt am Strand. Das dürfte hier eines der schönsten Fluggebiete der Welt sein. Leider hat in den letzten drei Tagen ein strammer Nordwestwind geblasen, so das es mit dem Schirm ausleihen nicht geklappt hat. Auch heute bläst es noch leicht aus Nordwest, geflogen wird trotzdem. Denn wie heißt es doch so schön: „Im Lee is schee“.
Für die Weiterfahrt steht mir jetzt der Pedra da Gávea im Weg. Ich habe zwei Optionen: Langes Gekurve über ein kleines, verwinkeltes Sträßchen über den Berg, oder „Augen zu und durch“, durch den Autobahntunnel. Ich entscheide mich für letzteres. So komisch das auch klingen mag, dort bin ich vermutlich wesentlich sicherer unterwegs. Der Verkehr läuft für südamerikanische Verhältnisse relativ geregelt ab, es gibt weniger Schlaglöcher, und vor allem einen kleinen Seitenstreifen. Ach ja, und geradelt wird natürlich immer schön auf der Gegenfahrbahn.
Nach schätzungsweise 2 km erreicht man das Nobelviertel Barra de Tijuca. Man fühlt sich ein wenig an Miami Beach erinnert. Es gibt Viertel namens „Ocean Front“ oder „Golden Green“, jede Menge Shopping Center und natürlich die ach so beliebten „Condominios“, also abgeriegelte Wohnghettos, in die sich die Reichen verschanzt haben. Ich halte mich an den Strand, dort gibt es jetzt bis in die äußersten Bezirke Rios einen durchgängigen Radweg.
Danach geht es auf einem kleinen, gemütlichen Sträßchen weiter. In einem Restaurant auf den Klippen oberhalb des „Prainha“, des „Strändchens“, gönne ich mir ein paar Bier, bei der Hitze hier ist das genau das richtige auf nüchternen Magen. Unten in der Brandung toben sich die Surfer aus.
Auf einer üblen Straße aus Kopfsteinpflaster rumpelt man dann am Praia do Grumari entlang, bevor es über einen elend steilen Hügel mangels Küstenstraße vorübergehend ins Hinterland geht. Durch Mangrovensümpfe führt das Sträßchen nach Santa Cruz, eine häßliche Industriestadt, die ich so schnell wie möglich hinter mir lasse. „Schnell“ ist allerdings schwierig, denn mittlerweile hat sich der Himmel zugezogen und es pfeift ein strammer Gegenwind. Auf der Gegenfahrbahn ein endloser Verkehrsstau, die Wochenendausflügler wollen zurück nach Rio, und ich darf mich unter Gejohle und Gepfeife im Schneckentempo gegen den Wind an ihnen vorbeikämpfen.
Abends komme ich an Itaguarí vorbei, das schaut genauso häßlich aus wie Santa Cruz, aber bis zurück zum Meer werde ich es aufgrund des Gegenwindes nun nicht mehr ganz schaffen. Es ist schon dunkel als ich endlich ein Hotel am Straßenrand ausmachen kann. Wobei mir nicht ganz klar ist ob es ein Hotel oder ein Motel sein soll, ein kleiner, aber feiner Unterschied in Südamerika. Äußerlich deutet alles auf ein Hotel hin, aber die lautstarke Orgie, die nachts im Nebenzimmer gefeiert wird, läßt auf letzteres schließen...
Montag, 11. Oktober
Itaguaí - Angra dos Reis (ca. 80km)
Um halb 7 stehe ich startklar auf der Matte, aber so „früh“ scheint man hier nicht mit Frühstücksgästen zu rechnen. Da ich kein Kaffeejunky bin will ich einfach so los, da man mich aber immer wieder mit dem Hinweis vertröstet, es wäre schon fast angerichtet, warte ich. Ein schwerer Fehler! Es dauert fast eine Stunde bis ich einen pappsüßen Kaffee und ein Butterbrötchen bekomme. Na ja. Draußen habe ich ja nicht viel verpaßt. Es weht immer noch der stürmische Wind von gestern, immer noch genau von vorne. Die verbliebenen 10 Kilometer zurück ans Meer ziehen sich, überall liegen abgerissene Äste und Zweige auf der Straße. Ich gebe einem einheimischen Radler auf dem Weg zur Arbeit Windschatten, eine sinnvolle Unterhaltung kommt bei dem Tosen freilich nicht zustande.
Nach einer Stunde erreiche ich wieder das Meer. Vor nicht einmal 50 Jahren war hier Ende, Parati konnte bis 1954 nur auf dem Seewege erreicht werden. Und es wird auch schnell klar, warum das so war: Das Küstengebirge fällt hier praktisch direkt ins Meer ab. Die Straße schlängelt sich an der Steilküste entlang rauf und runter, und ohne den einen oder anderen Tunnel wäre man wohl nicht weit gekommen. Eine phantastische Landschaft, mit herrlichen Ausblicken auf die tief unten liegende Buchten, die bei schönem Wetter in tiefem Türkis leuchten sollen. Heute ist es stark bewölkt, trotzdem kann man sich an den ständig wechselnden Perspektiven nicht satt sehen. Das Meer bleibt fast immer im Blick, wobei man jedoch nur selten direkt ans Wasser heran kommt.
Gegen Mittag gerate ich in einen unglaublichen Regenguß, man meint, man stehe unter der Brause. Angenehm warm ist es ja und so fahre ich einfach weiter, „oben ohne“ versteht sich, bis ich pünktlich zur Mittagszeit klitschnaß den Strand von Conceição de Jacareí erreiche.
Und schon hört der Regen auf. Zwischendurch spitzt sogar mal die Sonne durch die Wolken und ich lasse es mir an einer Strandbar gut gehen.
Erst am späten Nachmittag geht es weiter. Camorim Grande ist das heutige Etappenziel, ein Fischerdörfchen mit einem schönen, kleinen Strand, einem Hotel und einigen Pousadas. Erst mal gucke ich mich am Strand um, quatsche mich natürlich gleich wieder fest und suche erst nach einem Zimmer, als es schon stockfinster ist. Doch siehe da, die Pousadas haben noch „Winterpause“ und das Hotel wäre angeblich völlig ausgebucht, sprich, außer mir ist niemand da und wegen eines einzigen Gastes haben die Angestellten keinen Bock, in Wallung zu geraten.
Na ja. Was bleibt mir anderes übrig als durch die Dunkelheit weiter in die nächste Stadt, nach Angra dos Reis zu fahren. 10 Kilometer durch die tropische Nacht, auf der nun völlig einsamen Küstenstraße. Ein paar Sterne funkeln durch die Wolken, die Grillen zirpen, die Reifen surren, was will man mehr.
Dienstag, 12. Oktober
Angra dos Reis - Paratí (ca. 100km)
Früh im Morgennebel mache ich erst mal einen kleinen Spaziergang und stelle überrascht fest, das die Pousada, die ich gestern wahllos im Dunkeln angesteuert habe, direkt am Strand liegt.
Um halb 8 bin ich wieder im Sattel, es ist wieder bewölkt, aber noch wärmer als gestern, und so passe ich mich der Landessitte an und fahre ohne Hemd, nur in Schlappen und kurzer Hose. Es geht in weitem Bogen um die Bucht von Angra herum, von der gesagt wird, das man an jedem Tag des Jahres eine andere Insel besuchen könnte. Theoretisch natürlich nur, denn viele der 365 Inseln ähneln Hochsicherheitstrakts, mit Privatbootssteg dran, Jacht davor und mit Stacheldraht gesicherten Villa oben drauf. Wer hier Geld hat kleckert nicht, sondern klotzt.
Heute ist es wesentlich flacher als gestern, trotzdem erreicht man bisweilen beachtliche Höhen über dem Meeresspiegel, die allerdings jedesmal mit fantastischen Ausblicken belohnt werden. Inzwischen habe ich mich auch an das Fahren auf der Gegenfahrbahn gewöhnt. Machen alle Einheimischen so, man hat den entgegenkommenden Verkehr viel besser im Überblick als über den verwackelten Rückspiegel und kann, wenn wieder mal einer meint, die Straße gehöre ihm allein, rechzeitig in die Böschung flüchten.
Um die Mittagszeit steuere ich wieder ein kleines Fischerdörfchen an. Heute ist Tarituba das Ziel. Dort plündere ich 4 Stunden lang den Getränkevorrat der örtlichen Strandbar, gemeinsam mit einer Familie aus São Paulo, die ich zufällig am Nebentisch kennen gelernt habe.
Die fehlenden 40 km bis Paratí reiße ich dann dank Rückenwinds in eineinhalb Stunden herunter. Und das ist gut so, denn kurz nach Tarituba endet urplötzlich der schöne breite Seitenstreifen. Viel Verkehr herrscht hier zwar nicht, aber wenn, dann fahren die Brasis wie die Henker, und da ist man dann immer ganz froh, wenn man ein bißchen mehr Sicherheitsabstand hat.
Bei Einbruch der Dunkelheit erreiche ich Paratí, wenn auch nur schiebend, denn das Kopfsteinpflaster in der Altstadt ist nicht sehr fahrradfreundlich.
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Mittwoch, 13. Oktober
Paratí
Auf den zurückliegenden 260 Kilometern konnte ich nicht herausfinden, ob man Paratì nun mit i oder y schreibt, und auch hier in der Stadt selber scheint man sich darüber nicht so ganz einig zu sein. Sei’s drum. Schön ist’s hier und drum bleibe ich auch noch einen Tag. Früh um 7 bin ich so ziemlich als einziger auf den Beinen, eine gute Gelegenheit, in der Morgensonne durch die leeren Gassen zu schlendern.
Der Rest des Tages ist bereits verplant, da geht es für umgerechnet 8 Euro mit einem Segelboot raus zu den schönsten Stränden. Und so wie die Sonne heute herunter knallt bin ich heilfroh, bei Bier und Caipirinha durch die Gegend zu schippern, anstatt im Fahrradsattel zu rösten. Denn voraus liegt nun der Anstieg zur Serra do Mar, von 0 auf 1400 Meter.
Bootsausflug zu den Stränden rund um Parati