7. November
Als ich früh um 5 losfahre torkeln mir gerade die letzten Partygäste
von der gestrigen Veranstaltung entgegen. Hotelbedienstete waren
nirgends zu entdecken. Ich vermute, sie waren gestern auch feiern und
sind heute leicht unpässlich.
Das Geld habe ich darum einfach im Zimmer zurückgelassen. Eigentlich
wollte ich ja schon gestern Abend bezahlen, aber ich hatte dummerweise
nur 2 Zehner, und die Rechnung war 12 Reais, also ungefähr 6 Euro,
inklusive den beiden Bieren in der Hotelbar. Nun ist es aber ein in
ganz Südamerika verbreitetes Phänomen, das grundsätzlich nie
ausreichend Wechselgeld vorhanden ist. Keine Ahnung warum, entweder ist
hier jeder ständig knapp bei Kasse, oder man hofft dass die Kundschaft
einfach nach oben aufrundet, oder man ist zu faul zum rechnen, oder
wasweißichwas. Will man z.B. eine Rechnung über 2 Reais mit einem
Fünfer begleichen, wird man in den meisten Fällen mit einem
Kopfschütteln abgewiesen. Versucht man es mit einem Zehner ist der
Gegenüber schon fast beleidigt. Und zückt man gar einen Fünfziger, so
wird man wahrscheinlich gleich an der nächsten Ecke ausgeraubt.
Naja. Ich hoffe mal das Geld wurde von einem ehrlichen Bediensteten
gefunden und der nächste Radfahrer, der dort Station macht, wird nicht
meinetwegen wegen Zechprellerei gelyncht. Irgendwie bin ich ja auch
recht froh darüber, das niemand mehr aufgetaucht ist. Gestern Abend
waren die Jungs hier nämlich unaufgefordert ziemlich engagiert, mir
eine Mitfahrgelegenheit bis Apuí zu organisieren. Man war nämlich der
Meinung, das es viel zu weit dorthin wäre und dass man das mit einem
Fahrrad niemals schaffen würde. Sind ja immerhin mehr als 300
Kilometer. Das es von Belém bis hierher ein ganzes Stück weiter gewesen
wäre und ich es trotzdem geschafft hätte will man irgendwie nicht
gelten lassen. "Morgen" käme ein LKW und ich solle hier auf ihn warten.
Dazu habe ich nun wirklich keine Lust, noch dazu wo mir halbwegs
flaches Terrain vorhergesagt wurde, wenngleich ein Blick auf die
Landkarte ganz anderes vermuten lässt...
Die Seitenstraße radle ich noch im dunkeln, beim ersten Dämmerlicht bin
ich dann wieder auf der Transamazonica. Es kommen noch ein paar Hügel,
aber dann wird es tatsächlich flacher. Die Straße führt auf einem Damm
mitten durch Sumpfgebiet, ist aber in ausgezeichnetem Zustand. Bis zum
Mittag schaffe ich fast 100 Kilometer!!
Auf 95 % der Strecke ist das Umland noch unberührten, nur ab und an
komme ich an einem Bauernhof oder einer dieser lustigen Bambushütten
vorbei. Gestern habe ich übrigens herausfinden können, was es mit
diesen Hütten auf sich hat: Es handelt sich dabei um die Behausungen
der örtlichen Indianerstämme, die hier in dieser Gegend noch halbwegs
ihrem traditionellen Lebensstil nachgehen. Das ist dann wohl das, was
einem im Erdkundeunterricht unter dem schönen Schlagwort
"Brandrodungswanderfeldbau" eingehämmert wurde. Wobei es zumindest
meinen Lehrern wohl weniger um die anschauliche Vermittlung des
Brandrodungswanderfeldbaus selber ging, sondern eher darum, zu sehen,
ob sich die armen Schüler so ein elendes Wort merken können...
Den Weißen gehen die Indianer angeblich so gut es geht aus den Weg, und
ich nehme an, dass sie ihre guten Gründe dazu haben werden. Darum habe
ich wohl auch nie jemanden gesehen, obwohl überall noch die Feuer
geraucht haben...
Am Nachmittag treffe ich dann immer häufiger auf kleine Lichtungen,
und, oh Wunder, ich begegne auch dem ersten Fahrzeug seit 5 Tagen auf
der Transamazonica. Und, wie sollte es auch anders sein, es handelt
sich ebenfalls um einen Radfahrer: Ein Bauer, der gerade auf dem Weg zu
seinem Nachbarn ist, 10 Kilometer weiter vorne. Er ist genauso
überrascht wie ich, einem anderen Radler zu begegnen, und das Erste was
er mich fragt ist, wie ich denn ohne Schießeisen all die gefährlichen
Indianer und die hungrigen Jaguare überlebt hätte. Er hat seine alte,
rostige Schrotflinte an sein Fahrrad gezurrt, aber ich frage mich, wozu
das gut sein soll, wenn einem tatsächlich ein Jaguar ins Kreuz springen
sollte...
Nach einigem hin und her muss auch er zugeben, das er eigentlich noch
nie einen in freier Wildbahn gesehen hätte, aber er kenne da einen der
jemanden kennen würde dessen Nachbar schon mal eine in die Büsche
flüchten gesehen hätte...
Der brasilianische Bundesstaat Pará ist ungefähr so groß wie
Deutschland, Frankreich und Italien zusammengenommen. Heute komme ich
von Pará ins Bundesland Amazonas, und das ist nochmal um ein
Großbritannien größer. Zwei von seinen 3 Millionen Einwohnern leben in
der Hauptstadt Manaus, der Rest verteilt sich über eineinhalb Millionen
Quadratkilometer.
Amazonas heißt mich mit einem kräftigen Regenschauer willkommen. Wie
üblich setzt der Regen so schnell ein, dass ich keine Zeit habe, mich
irgendwo unterzustellen. Ich bin gerade an einer leichten Steigung, und
innerhalb weniger Augenblicke verwandelt sich die Piste in ein
reißendes Flussbett. Da gibt es kein Vorankommen. Anstatt lange gegen
Matsch und Wasser anzukämpfen mache ich es mir unter meiner großen
Plastikplane bequem und warte. Ringsherum kann ich am Horizont blauen
Himmel sehen, aber diese blöde Wolke bleibt hartnäckig über mir. Wie
sagten doch die Jungs vom Fahrradclub in Belem so schön: "Keine Sorge,
jetzt ist nur die Regenzeit. Die Noch-mehr-Regenzeit beginnt erst im
Dezember..."
Es schüttet über eine halbe Stunde lang. Dann hört es genauso schnell
auf, wie es begonnen hat. Ich warte noch ein bisschen, bis sich das
Wasser verlaufen hat, dann versuche ich, auf der aufgeweichten Straße
weiterzukommen. Für den nächsten Kilometer benötige ich 30 Minuten,
dann erreiche ich, innerhalb von 10 Metern, trockenes Land, welches
wohl noch außerhalb meiner Wolke lag.
Später muss ich noch ein paar Mal durch sandige oder feuchte
Abschnitte, wo wohl kurz zuvor eine Wolke durchgezogen ist, beides
zwingt mich, einige Gänge runterzuschalten. Trotzdem schaffe ich bis
zum Abend über 150 Kilometer, meine bisher längste Tagesetappe in
diesem Urlaub.
Am späten Abend ist weit und breit keine menschliche Behausung zu
sehen, also muss ich mein Nachtlager wieder mal im Wald aufschlagen. Es
ist gar nicht so einfach, ein schwer bepacktes Fahrrad quer durch den
Wald zu ziehen, und so lehne ich es erstmal an einen Baum, während ich
nach einer halbwegs ebenen und wenig bewachsenen Stelle für mein Zelt
suche. Ich werde auch bald fündig, aber ein bisschen Aufräumarbeit muss
ich trotzdem noch leisten. Ich schwinge meine Machete ein paar Minuten
lang, und als ich endlich mit dem Ergebnis zufrieden bin ist es dunkel...
Das wäre jetzt eigentlich kein Problem, ich habe mein Zelt schon zig
mal im Dunkeln aufgebaut, das kriege ich mit verbundenen Augen hin.
Aber wo habe ich nur mein Zelt gelassen? Und das Fahrrad?
Ich stehe hier irgendwo im Wald, in kurzen Hosen und mit Badeschlappen,
und all die netten Sachen wie Zelt, Taschenlampe, Brotzeit und
Insektenmittel lehnen an irgendeinem Baum, irgendwo im Umkreis von 10,
15 Metern... Hmmm. Ich stolpere durchs Dunkle, hacke alles nieder was mir im
Weg wächst. Schließlich finde ich zurück auf die Straße, wo man beim
letzten Dämmerlicht wenigstens noch ein bisschen was sehen kann. Zum
Beispiel meine Reifenspuren in der Böschung, so dass ich die Stelle
wiederfinden kann, an der ich in den Wald hineingeschoben habe. Da drin
stolpere ich auch gleich über den Baumstamm, über den ich das Rad
gewuchtet habe...platsch, das war die modrige Pfütze ein paar Meter
weiter... autsch, der Dornenbusch und schließlich kläng, das Hinterrad.
Mit der Taschenlampe brauche ich dann nochmal ein paar Minuten, um meine
mühsam freigeräumten 4 Quadratmeter wiederzufinden.
Die ganze Nacht trommelt heftiger Regen aufs Zelt und mein Fuß, den ich
kurz vor Jacareacanga mit der Liane stranguliert habe schmerzt vor sich
hin.
8. November
Am nächsten Morgen werde ich noch von der nassen Straße ausgebremst,
aber die Sonne trocknet bald alles aus. Ich freue mich auf ein kleines
Dorf, das es laut Landkarte irgendwo hier geben müsste, aber alles was
ich finde sind die Ruinen einer alten verlassenen Tankstelle. Von den
Hütten stehen nur noch ein paar Pfosten und aus den ehemaligen
Benzintanks wachsen kleine Bäumchen. So wie diese Tankstelle sind auch
viele andere Hütten und Siedlungen an der Transamazonica verlassen
worden, und viele der verbliebenen Siedler haben ein "Zu
verkaufen"-Schildchen aufgehängt. Die euphorischen 70er sind wohl auch
hier vorüber...
Später erreiche ich wieder einmal einen größeren Fluss, den es zu
überqueren gilt. Auf der anderen Seite hat eine Fähre festgemacht, aber
es ist kein Mensch zu sehen. Der Käptn muss wohl irgendwo da drüben
sein und dürfte nur dann zu seinem Kahn kommen, wenn jemand kräftig
hupt. Aber mit einer Fahrradklingel ist da wohl nix zu wollen. Ich
laufe ein wenig am Flussufer entlang, glaube sogar, eine Hütte sehen zu
können, aber es muss jetzt wohl Siesta sein. Gerade ziehe ich mein
T-Shirt aus und mache mich bereit, hinüberzuschwimmen, als ich jemanden
den Fluss heraufpaddeln sehe.
Es ist ein alter Fischer, Carlinho. Sein Enkelsohn hat mich aus der
Entfernung entdeckt und sich gewundert, was hier los ist und so sind
sie hergekommen, um zu sehen, ob ich Hilfe brauchen kann. Eigentlich
müsste ich ja nur wissen, wo ich den Fährmann finden kann, aber während
mir Carlinho noch erklärt wie ich zu seiner Hütte komme entdeckt
sein Enkel, das mein "Moto" gar kein Moto ist, sondern ein ganz
gewöhnliches Bicicleta.
Entweder liegt's an den schwarzen Taschen oder die Leute unterstellen
einfach, das es wohl ein Motorrad sein muss, um bis hierher zu kommen...
Jedenfalls, mit einem Fahrrad ist das natürlich etwas ganz anderes.
Kurzerhand wird mein Rad und alles Gepäck auf das wacklige Kanu geladen
und ich werde hinübergerudert. Mir ist ein wenig mulmig bei der Sache,
aber es geht alles gut, außer das die Lenkertasche während der
Überfahrt ins Wasser hängt. Da waren dummerweise zwei sehr wichtige
Ausrüstungsgegenstände drin: Geld und Klopapier!
Gleich nach der nächsten Wegbiegung kommt tatsächlich ein kleines Dorf,
und während ich mir im örtlichen "Restaurant" ein Mittagessen gönne
lege ich meine gesamte Barschaft zum trocknen aus...
Es geht relativ flach weiter, mit nur ab und an ein paar Hügelchen. Ich
komme schnell voran und freuende mich bereits mit dem Gedanken an,
heute schon Apuí zu erreichen. Kaltes Bier, Churrasco, Eiscreme,
miamiam...
Es sind jetzt bereits 6 Tage ohne den geringsten Verkehr vergangen,
nichts außer dem Flugzeug bei "Kilometro 180", dem Radfahrer von
gestern und dem lokalen Verkehr abseits der Transamazonica in
Jacareacanga. Ach ja, und von dem LKW, auf den ich unbedingt warten
sollte habe ich auch noch nichts gesehen.
Erst spät am Nachmittag erreiche ich dichter besiedeltes Land, und noch
immer sind es 30 Kilometer bis Apuí. 20 Kilometer vorher sehe ich den
ersten Jeep, und ein paar Minuten später sogar eine alten Schulbus, der
hier seine Runden dreht. Um 6 Uhr wird es dunkel, und es sind noch
immer 15 Kilometer bis in den Ort. Aber ich versuche weiterzufahren.
Es ist mühsam. Mein kleines Taschenlämpchen hilft nicht viel, ich muss
sehr langsam und vorsichtig fahren, um Hindernisse rechtzeitig zu
erkennen. In einiger Entfernung sehe ich ein paar Lichter und ich
glaube schon, die Randbezirke Apuís erreicht zu haben. Aber es ist nur
eine Farm mit einem eigenen Dieselgenerator.
Auf der hell erleuchteten Veranda läuft gerade jemand herum, und so
nutze ich die Gelegenheit um mich nach der Entfernung bis zur Stadt zu
erkundigen. Es seien nur noch 7 Kilometer, einige davon sogar geteert,
aber bevor ich weiterfahre solle ich doch erstmal zu einer kurzen Pause
reinkommen.
Aus der kurzen Pause wird dann ein komplettes Abendessen. Die Familie
ist italienischer Abstammung, und dementsprechend schmeckt auch das
Essen. Während ich noch am reichlich gedeckten Tisch spachtle was das
Zeug hält wird bereits das Gästezimmer für mich hergerichtet, und ich
muss zugeben, das ich mich nicht allzu lange gegen diese Einladung
gewehrt habe.
Es ist eine ziemlich große Farm, und wohl auch die einzige im Umkreis
mit eigenem Strom und Fernseher. So tauchen dann im Laufe des Abends
einige Nachbarn zum gemütlichen Fernsehabend auf. Es läuft der
brasilianische Verschnitt von "Wer wird Millionär", aber heute hat man
ja einen Besucher, dem man tausend Fragen stellen kann. Und das ganze
ohne Telefonjoker...
Die am häufigsten gestellte Frage lautet schlicht und einfach "Warum?".
Ich habe es schon vor Wochen aufgegeben, zu erklären, dass ich das
Ganze nur so zum Spaß mache. Das versteht hier kein Mensch. Viel
ehrenhafter ist es doch, wenn man irgendein Gelübde erfüllen muss, oder
wenn man eine fiktive Wette gewinnen will. Bei mir geht's meistens um
einen Kasten Bier...
9. November
Um fünf Uhr morgens sind meine Gastgeber schon längst beim Kühe melken.
Mein Fahrrad habe ich gestern mit allem Gepäck einfach vorm Haus stehen
gelassen, und so bin ich auch sofort startklar. Ich wage mich noch
mitten durch die Kuherde, um mich zu verabschieden, dann geht's weiter.
Im Dämmerlicht brauche ich nur noch 10 Minuten bis zum "Flughafen" von Apuí,
und
danach geht's bis zur Ortsmitte tatsächlich geteert weiter. Allerdings ist
die Teerdecke von einer solchen Qualität, das ich sie wahrscheinlich gar
nicht bemerkt hätte, wenn ich gestern nacht weitergefahren wäre..
Ich bin überrascht, wie groß dieses Städtchen ist. Entgegen meinen
bisherigen Informationen ist es ein ganzes Stück größer als Jacareacanga, es
gibt mehrere, schon fast supermarktartige Läden, ein kleines Krankenhaus,
sogar ein Gymnasium
und einen Busterminal. Ab hier gibt es, zumindest in der Trockenzeit,
regelmäßigen Busverkehr nach Porto Velho.
Während ich meine Einkäufe erledige erzählt man mir von Schwester
Theresa, einer deutschen Nonne, die sich hier um die Waisenkinder
kümmert. Neugierig frage mich nach ihr durch, jeder im Ort scheint sie
zu kennen, aber leider ist sie heute irgendwo außerhalb unterwegs. Aber
ich lasse ihr ein kleines Geschenk da, die Bücher, die ich vor 1000
Kilometer ausgelesen habe und die ich seitdem mit mir herumschleppe.
Heute kommt es mir noch heißer vor als sonst, und es geht zur
Abwechslung wieder einmal über ein paar ziemlich steile Hügel. Die
Landschaft hat sich verändert, es gibt jetzt wieder jede Menge riesiger
Fazendas. Jetzt, am Ende der "Trockenzeit", ist die Saison der
"Quemadas", also des Abfackelns des lästigen Waldes, den man ein paar
Monate zuvor bereits umgesägt hat. Für ihre mageren Rinderherden müssen
die Fazenderos jedes Jahr neues Land einschlagen, weil der karge Boden
dem Regen und den Rinderhufen wohl nicht allzu lange standhält. So
fressen sich die Fazendas jedes Jahr weiter in den Wald hinein, einige
haben schon längst den Horizont erreicht, und vorne am Straßenrand, wo
sie vor Jahren angefangen haben, ist nur noch ödes Land zurückgeblieben.
Am Mittag wird mir die Straße von einer großen Rinderherde versperrt.
Je zwei Cowboys vorne und zwei hinten überwachen die Herde. Die beiden
hinteren reiten neben mir, wir unterhalten uns ein wenig, aber die Kühe
vorne scheinen immer nervöser zu werden, obwohl wir noch etliche Meter
Abstand halten. Scheinen wohl noch nie ein Fahrrad gesehen zu haben.
Die beiden versichern mir, das das kein Problem wäre, aber ich halte dann
doch lieber etwas mehr Abstand. Aber die blöden Kühe drängeln immer noch
nervös nach vorne, und je mehr die beiden Reiter vorne versuchen, die Herde
zu bremsen desto nervöser drücken die Kühe hinten nach.
Ich bin mittlerweile gut hundert Meter weg und sogar stehengeblieben,
als das Ganze plötzlich in Panik umschlägt. Urplötzlich dreht sich die
ganze Herde um 180 Grad und galoppiert genau auf mich zu! Huch!! Runter vom Rad,
aus dem Stand über den Straßengraben und dann nichts wie ab über den
nächsten Zaun. Als ich mich wieder aufgerappelt habe sehe ich nur noch
hunderte weiße Zeburindern, und irgendwo dazwischen 4 verzweifelte Cowboys,
die mit Schreien und
Hutwinken versuchen, die Herde aufzuhalten.
Sie verschwinden in einer riesigen Staubwolke hinter dem nächsten
Hügel... Mein Fahrrad hat das Ganze erstaunlicherweise unbeschadet
überstanden, ich muss nur eine bisschen Kuhsch... abkratzen. Viel
Unterschied hat das eh nicht mehr gemacht, so dreckig wie es vorher
schon war...
Ich fahre dann lieber schnell weiter, bevor ich noch mit irgendjemandem
Ärger kriege. Es ist wirklich ziemlich viel Verkehr hier, seit heute morgen
sind
schon 3 LKW an mir vorbeigekommen, alle 3 in Richtung Westen. Bin ich nicht
mehr gewohnt. Am Nachmittag erreiche ich den Rio Aripuará, und dort finde
ich dann auch
heraus, warum niemand in die andere Richtung gekommen ist: Die Fähre
ist außer Betrieb. Die drei LKW von heute morgen warten immer noch, und
mehrere LKW und der Bus aus Porto Velho stehen bereits seit gestern
Abend auf der anderen Seite.
Die Passagiere und Fahrer haben sich schon mit Kanus übersetzten lassen
und haben es sich in dem kleinen Restaurant am "Hafen" bequem gemacht.
In solchen Momenten erntet man statt mitleidigen eher neidische Blicke
der motorisierten Reisenden. Ich kann mein Fahrrad einfach in ein kleines
Kanu laden und mich hinüberpaddeln lassen.
Zunächst gehe ich aber auch etwas essen. Und auch trinken, denn jeder
ruft mich mal zu seinem Tisch hin, um mich über mein seltsames Treiben
zu befragen. Dabei wird mir natürlich jedes mal mein Bierglas aufgefüllt,
und bis ich meine Runde gemacht habe, habe ich schon einen leichten
Schwipps. Die Laune steigt noch weiter, denn die Reparaturarbeiten an der
Fähre nähern sich dem Ende und es soll "de
aqui a pouco" weitergehen. Und tatsächlich, nach einer Stunde wird der
Bus aufgeladen und die Fähre kommt herüber.
Gerüchten zufolge soll der Fluss hier 90 Meter tief sein, und so benutze ich
dann auch viel lieber die große Fähre anstatt eines kleinen wackligen Kanus.
Auf der Anhöhe auf der anderen Seite befinden sich noch ein paar Hütten und
der Fußballplatz. Dort darf ich mit
freundlicher Genehmigung des Dorfobersten mein Nachtlager aufschlagen. Ein
herrlicher Ort. Der Sonnenuntergang spiegelt sich in den Flussbiegungen, ich
gehe noch mal runter ans Wasser und lasse mich eine ganze Weile in den
warmen, klaren Fluten treiben.
Nachts kommt ein Sturm auf, und ich muss noch mal raus, um das Zelt
ausreichend gegen den Wind zu sichern.
10. November
Es regnet. Und es ist kalt. Die Temperatur ist auf gerade mal 20 Grad
gefallen, und das lässt einen wirklich bibbern, wenn man 30 bis 35°
gewohnt ist. Der Regen ist nicht sonderlich stark, nur so ein komischer
Nieselregen, und zusammen mit dem grauen Himmel und den niedrigen
Temperaturen kommt es einem genauso vor wie ein kalter Novembertag
daheim.
Immerhin habe ich heute auf den ersten paar Kilometern Gesellschaft.
João "da Vila" radelt gerade zur Arbeit, 20 Kilometer im Hinterland. Er
hat eine Schrotflinte, eine Machete und eine Kettensäge dabei, ein
echter Overkill. Seit Job besteht darin, möglichst schnell möglichst
viele Bäume umzusägen, und während wir an einem frisch abgeholztem
Waldstück vorbeifahren meint er, dass das Klima hier auch nicht mehr
das sei, was es mal war...
Der Regen reicht nicht aus, um die Straße vollends in Matsch zu
verwandeln, aber genug um sie soweit aufzuweichen, dass einen der
weiche Boden gehörig ausbremst. Zu allem Überfluss wimmelt es hier von
kleinen, schwarzen Mücken, denen man bei diesen Geschwindigkeiten kaum
entkommen kann, und spätestens wenn ich kurz anhalte verliere ich einen
weiteren halben Liter Blut.
Am Nachmittag erreiche ich ein kleines, namenloses Dorf, mit einem
dreckigen, aber gutem Restaurant. Dort mache ich es mir eine Weile
gemütlich. Ich muss ohnehin langsamer machen, denn 20 Kilometer voraus
befindet sich ein größeres Indianerreservat, und Nichtindianer dürfen
dort ohne Genehmigung nicht über Nacht bleiben.
Ich erfahre, dass "vor kurzem", also vor gut 2 Jahren, schon einmal 2
Fahrradfahrer hierher gekommen wären. Wahrscheinlich waren es Amis,
aber so genau weiß man das nicht, weil sie kein Wort portugiesisch
gesprochen haben. Sie sind aus Porto Velho gekommen, haben hier für 2
Tage gestoppt und sind dann mit dem Bus zurückgefahren. Darum habe ich
also in den Ortschaften vorher nie von denen gehört. Normalerweise wird
einem überall erzählt, wer wann schon einmal durchgekommen wäre...
Am Abend fahre ich noch ein paar Kilometer weiter und campiere dann auf
der Steppe, die eine aufgegebene Fazenda zurückgelassen hat.
Ameisen sind so ziemlich das nervigste, was es in Amazonien gibt. Sie
mögen ja wichtig und nützlich für die Natur sein, aber wenn einem die
Biester immer und überall über die Beine krabbeln, grundlos zubeißen
und sich über jedes nicht doppelt und dreifach verpacktes Lebensmittel
hermachen kriegt man irgendwann mal einen Hass. Auf einer anderen Tour
haben mir diese blöden Blattschneideameisen sogar schon einmal mein
Zelt zerlegt. Irgendwie haben sie gefallen am Innenzelt gefunden und in
der Kolonne in der sie normalerweise kleine grüne Blattschnipsel
davontragen konnte man ab und zu ein Stück von meinem Zelt wandern
sehen.
Seitdem verteidige ich mich immer mit dem guten alten Ameisenpulver.
Natürlich streue ich das nicht einfach so auf den Boden, sondern auf
die Plastikplane, die ich unters Zelt lege. Arg gesund ist das
wahrscheinlich nicht, aber wahrscheinlich immer noch besser als früh
ohne Moskitonetz, dafür aber mit Gelbfieber und Malaria aufzuwachen.
Bisher hat das immer gut funktioniert. Nur hier, auf dem ausgemergelten
Boden der verlassenen Fazenda scheinen sie hungriger zu sein.
Unaufhaltsam beißen sie sich ihren Weg ins Zeltinnere frei. Vielleicht
hätte ich doch keine bröseligen Kekse im Zelt futtern sollen... Jetzt
ist nächtliches Großreinemachen angesagt. Und natürlich noch eine
Ladung Ameisenpulver.
11. November
Im Morgennebel erreiche ich das Reservat der Tenharim Indianer. Hier habe
ich noch einmal Gelegenheit, 30 oder 40 Kilometer durch unberührten Wald zu
fahren, eine angenehme Abwechslung nach all den trostlosen Rinderfarmen, an
denen ich gestern vorbei musste. Die Straße führt an 3 Indianerdörfern
vorbei, und die Siedler haben es natürlich nicht lassen können, mich vor den
bösen, wilden Indios zu warnen.
Ich halte nicht zum Gaffen an den Dörfern an, aber entlang
der Straße begegnen mir doch ein paar Leute, und die sind ausnahmslos
freundlich. Entgegen allen Warnungen versucht kein einziger mir den
Schädel einzuschlagen oder mich zu Suppe zu verarbeiten. Ich werde
sogar mit frischen Ananas versorgt. Leider reicht es nur zu einer
"Unterhaltung" in der Zeichensprache, denn meine Kenntnisse in Tenharim
oder wie auch immer ihre Sprache heißt sind doch sehr begrenzt.
Das größte Dorf befindet sich an den Ufern des Rio dos Marmelos, genau in
der Mitte des Schutzgebietes. Dort gibt es eine Erste-Hilfe Station, eine
Schule und sogar elektrischen Strom. Ist schon ein lustiger Anblick, diese
riesigen Satellitenschüsseln neben den kleinen
Bambushütten...
Jetzt ist es nicht mehr weit bis zum Rio Madeira, vielleicht noch 120
Kilometer. In den letzten 6 Tagen habe ich eine Strecke geschafft für
die ich ursprünglich 2 Wochen eingeplant hatte, bei einem Durchschnitt
von über 130 Kilometern pro Tag. Ich brauche mich also nicht mehr sehr
zu beeilen. Kurz nach dem Reservat komme ich an einem kleinen
Restaurant an einem hübschen, glasklaren Fluss vorbei. Dort bleibe ich
den ganzen Nachmittag.
Die Nacht verbringe ich in einer alten verlassenen Bananenplantage.
12. November
Noch 50 Kilometer bis zum Rio Madeira. Es ist wieder einmal ein sehr
heißer Tag, aber es geht gut voran auf der flachen, offenbar erst vor
kurzem renovierten Piste. Am Horizont ziehen einige dunkle Wolken auf,
aber die halten mich jetzt nicht mehr auf. Um halb 10 stehe ich an der
Uferböschung.
Der Rio Madeira ist ein 3200 Kilometer langer und an dieser Stelle über
einen Kilometer breiter Nebenfluss des Amazonas. Er entwässert
ein riesiges Gebiet, praktisch ganz Bolivien und große Teile Mato
Grossos. Das Wasser ist braun und schlammig, und zahlreiche Baumstämme
("Madeira") und anderes Treibgut machen ihn nicht ungefährlich für die
kleinen Kähne, die zwischen Manaus und Porto Velho pendeln.
Humaita liegt gleich am anderen Flussufer. Endlich erreiche ich
vertrautes Gebiet. In Humaita war ich vor ein paar Jahren schon einmal.
Von hier aus führt die offizielle Transamazônica noch gut 200 Kilometer
weiter nach Westen bis nach Lábrea, einem kleinen Nest am Rio Purus.
Dort endet sie dann mitten im Dschungel. In den meisten Landkarten wird
jedoch eine andere Strecke als "Transamazonica" geführt, nämlich die
BR364, die über Porto Velho nach Acre führt, den westlichsten
brasilianischen Bundesstaat.
Für die weitere Routenwahl werde ich mich an die "inoffizielle"
Streckenführung halten.
Até logo
Micha
<-- weiter mit Teil 6