3. November
Ich schätze, dass ich - trockenes Wetter vorausgesetzt - ungefähr 4 bis
5 Tage für die 400 Kilometer von Itaituba bis Jacareacanga benötige.
Und ungefähr die gleiche Zeit, um mir den Namen "Jacareacanga" zu
merken...
Der Jeepfahrer, den ich gestern getroffen habe, hat mir erzählt, das es
eine sehr schlechte Piste sei und noch dazu sehr hügelig, obwohl es auf
der Landkarte flach am Fluss entlangzugehen scheint. Es gäbe keinerlei
Verpflegungsmöglichkeiten, außer in einem kleinen Dorf, so klein, das
es nicht einmal einen eigenen Namen hat. Man nennt es einfach nur
"Kilometro 180". Außerdem würde es von Schlangen, Spinnen und Jaguaren
nur so wimmeln und es wäre völlig unmöglich, ohne Vierradantrieb oder
gar mit einem Fahrrad durchzukommen. Da er aber "wahrscheinlich morgen
oder übermorgen" fahren würde, bot er mir zum Schluss sogar besorgt an, mich
kostenlos mitzunehmen, ein Angebote, dass ich so schnell wie möglich
und äußerst energisch abgelehnt habe, bevor ich mich doch noch zur
Vernunft bringen lasse.
Trotz all der schlechten Nachrichten über den weiteren Verlauf bin ich
dennoch froh, dass es überhaupt weitergeht. Immerhin habe ich eineinhalb
tausend Kilometer lang gehört, die Strecke wäre schon vor zig Jahren
aufgegeben
worden und längst wieder zugewachsen. Ich hätte jetzt wirklich keine
Lust gehabt, tagelang auf irgendwelchen Bananendampfern herumzugammeln. Den
Rio Tapajós runter bis Santarem, dann von Santarem den Amazonas hoch
nach Manaus, und von dort aus über den Rio Madeira bis Porto Velho...
da hätte ich länger gebraucht, als ich jetzt für die restliche Strecke
mit dem Rad einplane.
Bis ich aus dem Hotel komme ist es schon nach 7 Uhr. Normalerweise
fahre ich ja spätestens bei Sonnenaufgang los, in dieser Gegend ist das
so zwischen 5 und halb 6, aber heute leide ich ja immer noch unter der
gestrigen Feier, und außerdem muss ich noch ein paar Einkäufe tätigen.
Zum einen brauche ich einen ganzen Schwung Ersatzschrauben, da ich doch
schon einige verloren habe. Am Fahrrad, meine ich. Vor allem aber
brauche ich dringend neue Bremsklötze. Die waren zwar nagelneu, als ich
in Belem losgefahren bin. Aber beim Bremsen mit Schlamm als
Schmirgelpaste konnte man in den letzten Tagen fast zuschauen, wie sie
sich abgenutzt haben. Teilweise hatte ich sie schon bis auf den
Metallkern heruntergehobelt und musste sie anders herum montieren.
Tatsächlich finde ich eine kleine Fahrradwerkstatt, wo ich passende
Bremsklötze allerfeinster Qualität "made in China" erstehen kann.
Lebensmittel brauche ich hingegen keine einzukaufen. Ich schleppe noch
immer genügend Vorräte aus Belem mit mir herum. Bisher habe ich meinen
schönen neuen Benzinkocher kein einziges mal angefeuert.
Die Straße durch die Außenbezirke Itaitubas ist nichts für die
Bandscheiben: Kilometerlang geht es über eine üble, geschotterte
Waschbrettpiste, die einem das letzte bisschen Verstand aus dem Schädel
schüttelt. Was unangenehmeres gibt es nicht, außer vielleicht tiefen
Sand oder Schlamm, aber da fährt man ja nicht, sondern schiebt und trägt.
Gerade habe ich die letzten Hütten hinter mir gelassen, als - kawumm-
der vordere Gepäckträger wieder einmal herunterkracht. Kein Problem,
denke ich mir, denn genau für diesen Fall habe ich mich ja vorhin mit
Ersatzschrauben eingedeckt. Aber diesmal ist es nicht, wie unzählige
Male zuvor, eine der beiden Befestigungsschrauben, die da abgebrochen
war, sondern die komplette Öse an der Vorderradgabel. Was lehren uns
Murphys Gesetze? Niemals Ersatzteile mitnehmen, sonst geht was völlig
anderes kaputt...
Jetzt muss ich dieses ganze blöde Stück wieder zurück, um mir das Teil
irgendwo wieder anschweißen zu lassen. Notdürftig fixiere ich den
lockeren Träger mir ein paar Windungen Draht und mache mich wieder auf
den holprigen Rückweg. Doch nach ein paar Metern stelle ich fest, das meine
Notlösung gar nicht mal übel ist. Es scheint jetzt sogar weniger zu
wackeln als vorher. Na sowas. Ich zurre das ganze noch ein klein wenig
fester,
drehe ein paar Proberunden, und fahre dann einfach mal drauflos.
Vielleicht hält's ja.
Es ist herrliches Wetter, für die nächsten zwei Stunden folgt die
Straße auf einer Anhöhe dem Fluss und man hat eine herrliche Aussicht
auf das blaue Wasser, die weißen Sandbänke und den dichten, grünen
Wald.
Dann aber führt die Strecke etliche Kilometer ins Hinterland, wo die
Hügel viel höher sind.
Dort erreiche ich auch bald ein altes, rostiges Schild, das den Eingang
zum Amazonas Nationalpark ankündigt. Für mich bedeutet das 130
Kilometer unberührten Wald, "unberührt", wenn man mal von der Piste
absieht, die sich wie eine hässliche Narbe quer durchzieht. Ansonsten
gibt es aber weder Häuser noch Bars noch Restaurants, und schon gleich
gar keinen der einem im Notfall irgendwie weiterhelfen könnte.
Direkt am Eingang steht noch eine allerletzte Hütte, ein Außenposten
der IBAMA, also der brasilianischen Umweltschutzbehörde. Ein
Parkwächter oder ähnliches ist nirgends zu sehen, aber dafür entdecke
ich jemand anderes: Ausgerechnet hier, am bisher abgelegensten Winkel
läuft mir zum ersten mal seit Belem wieder ein anderer Tourist über den
Weg. Marcus, ein Brasilianer aus São Paulo, sitzt dort am Straßenrand
auf seinem Rucksack und wartet auf eine Mitfahrgelegenheit ins
Parkinnere.
Die kann ich ihm zwar nicht bieten, aber für ein kleines Schwätzchen
bin ich allemal zu haben. Er erzählt mir, dass er vorhat, sich einen
Monat lang allein quer durch den Dschungel zu schlagen und ich schaue
ihn nur ungläubig an und denke mir "So ein Spinner". Dann erzähle ich
ihm, dass ich noch bis zum Rio Madeira radeln will, und er guckt mich
genauso
komisch an...
Im Schatten eines großen Baumes unterhalten uns eine ganze Weile über
diverse urlaubsrelevante Themen. Eines davon wird besonders ausgiebig
diskutiert, nämlich "Onças". Markus schleppt zu seiner Verteidigung
einen langen, spitzen Bambusspeer mit sich herum, um die Jaguare im
Notfall auf Distanz halten zu können, während ich auf meine Machete
vertraue, die ich - immer griffbereit - auf meinen hinteren
Gepäckträger geschnallt habe. Beide "Waffen" helfen einem natürlich nur
in dem unwahrscheinlichen Fall, das man das Tierchen auch rechtzeitig
bemerkt, bevor es einem ins Kreuz springt, und so sind wir uns ziemlich
einig, dass das ganze rein psychologischen Wert hat.
Ich bin zwar kein Biologe, aber irgendwie halte ich das ganze Gerede
ohnehin für völlig übertrieben. Jeder erzählt einem hier, wie
gefährlich die Jaguare wären, aber ich habe bisher noch niemanden
getroffen, der tatsächlich einen in freier Wildbahn gesehen hat. Oder
liegt es einfach daran, das diese Leute nichts mehr erzählen
konnten...??
Naja, ich lasse mir jedenfalls nicht die Laune verderben. Nach der
willkommenen Pause geht's mit frischem Schwung weiter. Die "Straße" ist
jetzt nur noch ein 2,50 Meter breite Schneise durch den Wald, enger als
ein schlechter Waldweg daheim, und von allen Seiten - oben, unter,
rechts und links wachsen die Bäume und Büsche rein. Es geht bergauf,
bergab, um mich herum schwirren tausende bunte Schmetterlinge und von
unserer "Zivilisation" ist außer meinem Waldweg nichts mehr zu sehen.
Trotz all dieser überwältigenden Eindrücke bleibt das Radfahren ein
mühsames Geschäft. Eigentlich würde ich ja gerne entweder auf der
rechten oder auf der linken Reifenspur fahren, dort wo es einigermaßen
plattgewalzt ist und ruhiger zu fahren wäre. Dort kommt aber
dummerweise auch dieses blöde dornige Gestrüpp angewuchert. Ich habe
also die freie Wahl, ob ich mir lieber die rechte oder die linke
Körperhälfte aufschrubbeln will.
Neben den Dornen hocken in diesem Gestrüpp natürlich auch alle
möglichen Viecher herum, und so entscheide ich mich doch lieber für die
holprige Straßenmitte...
Das Blätterdach bleibt an vielen Stellen über der Straße geschlossen
und bildet so eine Art Tunnel. Willkommener Schatten, dann irgendwie
traue ich mich nicht so recht, zum Abkühlen in einen dieser Bäche hier
zu hüpfen.
Der Nationalpark ist riesig und zu einem Großteil noch völlig
unberührt. Wer weiß was da flussaufwärts alles herumkreuch.
Nicht ein einziges Fahrzeug ist heute vorbeigekommen, und am Nachmittag
fange ich an, mich zu fragen ob ich überhaupt noch auf dem richtigen
Weg bin. Sollte ich irgendwo eine Abzweigung übersehen haben? Die Piste
schaut wirklich nur noch aus wie eine schnell in den Wald geschlagene
Schneise. Vielleicht der Zufahrtsweg zu irgendeinem illegalen
Holzeinschlagplatz oder einer Kokaindestillerie? Wenn man meinem GPS
glauben darf müsste ich noch auf dem rechten Pfad sein, aber so recht
glauben will ich das nicht.
Am Abend habe ich immer noch kein Haus und kein Auto gesehen. Es wird
bald dunkel und ich muss noch irgendwo Wasser nachfüllen. Dummerweise
geht es schon die ganze Zeit nur an trüben Tümpeln vorbei, nirgendwo
ist ein sauberer Bach zu sehen. Also bleibt mir nichts anderes übrig,
als die braune, modrige Brühe mit Moskitolarven und sonstwas drin in
meine Flaschen abzufüllen.
Dann brauche ich fast eine halbe Stunde, um im Wald genügend freien
Platz für mein Zelt zu schaffen. Während ich noch fleißig am hacken und
jäten bin frage ich mich, warum ich denn nicht einfach draußen auf der
Piste zelte, wenn eh nix vorbeifährt...
Nachdem ich fertiggeräumt und das Zelt aufgebaut habe muss ich noch
mein Trinkwasser für heute Abend und morgen Vormittag abkochen. Zum
ersten Mal setze ich meinen neuen Benzinkocher in Gang. Im Zelt ist es
auch so schon warm wie in einer Sauna, und der Kocher vor der Tür lässt
die Temperatur gleich noch einmal um ein paar Grad steigen. Ich schätze
dass ich in der Zeit in der ich einen Liter abkoche einen halben Liter
ausschwitze...
Blätter, Holzstückchen und anderes Treibgut fische ich so gut wie
möglich heraus, dann koche ich das Ganze, bis sich auch die letzten
Moskitolarven aufgelöst haben, aber trotzdem bleibt es eine braune,
dreckige Brühe. Für den Tee ist es ja ganz gut, aber zum Rissotto gibt
es einen komischen Beigeschmack.
4. November
Wie üblich höre ich die ganze Nacht seltsame Geräusche rund ums Zelt,
und ich hoffe, das keines davon von einem Jaguar stammt. Um 4 Uhr früh
fangen die Vögel und Affen an zu lärmen.
Ich fahre früh los. Auf der Piste laufen und kriechen unzählige
Viecher, entweder gerade erst wachgewordene oder die von der
Nachtschicht, die gerade auf dem Heimweg sind... Später werden es immer
mehr Schlangen und Spinnen, ich sehe alle möglichen Sorten und alle
möglichen Farben, zwar immer nur aus sicherer Entfernung, aber trotzdem
irgendwie beunruhigend. Ich versuche ein paar auf Film zu bannen, aber
bis ich meinen Foto herausgekramt habe sind immer alle verschwunden.
Das einzige Tier das ich tatsächlich ablichten kann ist eine
Schildkröte, die von rechts über die Straße kommt und damit wohl
vorfahrtsberechtigt war.
Außer für Schlangen und Schildkröten muss ich auch immer öfter
anhalten, um über umgestürzte Bäume zu klettern.
Die meisten sind allerdings schon von jemandem zurückgestutzt oder
plattgefahren worden. Nur einmal ist das Verkehrshindernis noch so
frisch, dass ich mir mit meinem Buschmesser den Weg freihacken muss.
Dadurch und durch die unglaublich steilen Hügel komme ich nur langsam
voran. Mein Wasser wird knapp, bis zu "Kilometro 180" am anderen
Parkende schaffe ich es wohl nicht mehr. Also muss ich nochmal meinen
Kocher anschmeißen und noch ein paar Liter Wasser abkochen.
Das Dorf erreiche ich erst am Nachmittag. Es besteht aus ein paar
Häusern, einem alten, rostigen Auto, und auf dem Dorfplatz, der wohl
gleichzeitig auch der Fußballplatz sein soll parkt ein kleines
Flugzeug! Ich frage mich, wo das gelandet sein soll, ich kann nirgends
eine Flugpiste entdecken. Aber sogleich finde ich es heraus: Während
ich noch so auf der Straße stehe und grüble, welche Hütte wohl das
Restaurant sein könnte, donnert eine weitere Cessna über mich hinweg
und hupt mich an. Ich habe nicht einmal gewusst, das Flugzeuge Hupen
haben, aber offensichtlich hat das mir gegolten. Ich stehe wohl im Weg.
Und tatsächlich, gerade gehe ich ein paar Schritt zur Seite als das
Ding auch schon wieder angedonnert kommt, mitten auf der Straße landet
und dann mit Schwung direkt vor eine Hütte rollt. Zwischen den Bäumen
und den Flügelspitzen war vielleicht noch ein Meter. Ein Mann hüpft
heraus, verschwindet in einer der Hütten und dann entschwindet die
Cessna auch schon wieder, so schnell wie sie gekommen war.
In der Bar ist niemand außer der Bedienung. Sie ist nicht sehr
gesprächig, so kann ich denn auch nicht herausfinden, wie die Leute
hier ihre Brötchen verdienen. Illegale Goldschürfungen oder
Zwischenposten für die Schmuggelroute von Peru zum Atlantik? Keine
Ahnung, und ich nehme mal an, es ist hier auch besser, nicht allzu viel
zu wissen. Zumindest finde ich heraus, das sämtliche Waren eingeflogen
werden müssen, darum ist auch alles dreimal so teuer wie anderswo.
Zwei Stunden später ist es auch schon wieder Zeit, ein Plätzchen für
die Nacht zu finden. Heute mache ich mir nicht die Mühe, im Wald zu
zelten. Ich baue mein Zelt einfach mitten auf der Straße auf, hinter
einem umgestürzten Baum. Es kommt ja eh niemand vorbei.
Nicht ein einziges Auto seit zwei Tagen. Ich frage mich, was Marcus
macht. Er sitzt wahrscheinlich immer noch am anderen Parkende auf
seinem Rucksack und wartet auf eine Mitfahrgelegenheit.
5. November
Die Straße ist grauenhaft, seit ich "Kilometro 180" verlassen habe.
Wahrscheinlich bin ich seitdem mehr Kilometer gelaufen als gefahren.
Die vordere Schaltung funktioniert nicht mehr und ich muss jedes Mal
anhalten und "manuell" umschalten, wenn ich einen größeren Gang
brauche. Zu allem Überfluss schlängelt sich die Strecke in nicht
logisch nachvollziehbaren Windungen durch die Gegend. Zunächst merke
ich es gar nicht, aber irgendwann wundere ich mich dann doch, warum mir
die Sonne mal ins Gesicht scheint und kurz darauf auf den Rücken
brennt. Mittags merkt man das nicht so leicht, da kommt die Sonne
senkrecht von oben und man verliert völlig die Orientierung, aber ein
Blick auf den Kompass bestätigt meine Vermutung, das der
Straßenbautrupp hier wohl besoffen gewesen sein muss.
So langsam wird es hier langweilig. Auf der engen Schneise gibt es
nicht viel zu sehen, außer der rot-braunen Piste und dem Grünzeug
rundherum. Keine schöne Aussicht und die Büsche schauen im vorbeifahren
auch alle gleich aus. Niemanden, mit dem man sich unterhalten kann und
nirgends gibt es kühles Bier. Jede Wolke am Himmel lässt mich nervös
werden. Wenn es hier anfängt zu schütten könnte ich für lange Zeit
festsitzen. Vorräte habe ich für solch einen Fall genügend dabei, aber
irgendwie ist es trotzdem eine komische Vorstellung, fernab der
gewohnten Welt im Schlamm festzustecken.
Aber bisher habe ich Glück. Wie in den Tropen üblich ziehen zahlreiche
Wolken durch, ich komme auch ein paar Mal an noch feuchten
Streckenabschnitten vorbei, aber kein Regenguss trifft mich direkt. Diese
Art
Wolken verursachen heftige Regenfälle, betreffen aber nur einen schmalen
Streifen Land. Ein paar Meter außerhalb bleibt man völlig trocken.
Am frühen Nachmittag mache ich mir mein Mittagessen. Dazu mache ich es
mir auf einem großen Felsklotz mitten in einem Bach bequem. Der
perfekte Platz, um diese nervigen, allgegenwärtigen Ameisen
auszutricksen. Während ich da so sitze betrachte ich meine Arme und
Beine etwas genauer. Es gibt keinen einzigen Quadratzentimeter mehr,
der nicht mit Kratzern und Stichen übersäht wäre. Und auf meiner
rechten Hand, die ich mir vor zwei Wochen "verbrannt" habe, entwickeln
sich eigentümliche Bläschen.
Es geht weiter wie zuvor. Erst am Abend komme ich an einer kleinen
Lichtung vorbei, mitten darauf eine kleine, offene Bambushütte.
Irgendwo muss hier jemand sein, ich sehe frisch gewaschene Kleider vor
der Hütte und der Herd raucht noch. Aber ich kann niemanden sehen. Ich
würde hier ja gern über Nacht bleiben, aber ich fahre dann nach einigem
Zögern doch weiter. Der Besitzer hat vermutlich irgendein Schießeisen
und könnte nervös reagieren, wenn bei seiner Rückkehr ein Zelt auf seiner
Lichtung steht...
Ich schlafe ein paar Kilometer weiter im Dschungel.
6. November
Die Luftfeuchtigkeit im Wald ist so hoch, das es jeden Morgen von den
Bäumen regnet. Ich hoffe, es heute bis Jacareacanga zu schaffen und
packe darum schon lange vor Sonnenaufgang im "Regen".
So eine blöde Straße. Ich komme trotz der vielen steilen Hügel und der
holprigen Piste gut voran, jedenfalls deutlich mehr als 10 kmh, aber es
geht immer noch im Zickzack. Laut meinem GPS habe ich Mittags, nach
über 6 Stunden Fahrerei, gerade mal 30 Kilometer Luftlinie geschafft.
Aber ich nähere mich der Zivilisation. Ab und an komme ich an ähnlichen
kleinen Lichtungen vorbei wie gestern. Aber es ist jedes mal das
Gleich: Das Feuer raucht noch, aber es ist kein Mensch zu sehen. Die
Hütten bestehen eigentlich nur aus 4 Bambuspfosten und einem
Blätterdach. Aber ich würde doch gerne mal jemanden fragen, wie weit es
noch ist. Jacareacanga liegt nämlich 10 bis 15 Kilometer abseits der
Transamazonica, am Rio Tapajos, und ich möchte nicht die Abzweigung
verpassen.
Ich genieße gerade einen schnellen Downhill, als mir wieder einmal ein
paar umgestürzte Bäume den Weg versperren. Diese hier liegen allerdings
schon länger, sind ausgedörrt und von Autos bereits plattgewalzt
worden. Es sollte also kein Problem sein, mit Schwung drüberzufahren.
Kein Problem beim ersten, alles klar mit dem zweiten, fast ohne zu
wackeln über den dritt... in dem Moment schnalzt diese blöde Liane
hoch. Sie wickelt sich wie bei einer Karnickelfalle um meinen rechten Fuß
und schnürt ihn runter aufs Pedal. Ein riesen Ruck, das ganze Rad wird nach
rechts geworfen und ich kann
gerade noch ausbalancieren, nachdem die Liane gerissen ist und Fuß und
Pedal wieder freigegeben hat. Uiuiui. Es dauert eine Weile, bis ich wieder
Luft
kriege. Das wird noch eine Zeit lang weh tun.
Ganz plötzlich öffnet sich dann der Wald und ich erreiche ein paar
"richtige" Häuser und eine Abzweigung, die eventuell die nach Jacareacanga
sein
könnte. Ich fahre ein Stück rein, und schon nach den nächsten Hügeln
habe ich Glück. Da steht doch tatsächlich jemand am Straßenrand. Nachdem die
anfängliche beidseitige Verwunderung überwunden ist erfahre ich, das es sich
hier in der Tat um die Straße in die Stadt handelt und es sei auch nicht
mehr weit, nur noch 10
Kilometer oder so, und "nicht sehr hügelig". Während ich mich noch mit dem
Mann unterhalte kommen weitere 3 oder 4 Leute aus allen Richtungen an, und
sie alle fragen mich, ob ich auch auf dem Weg zum Fest sei. Von einem Fest
habe ich natürlich nichts gewusst, aber es scheint ein größerer Event zu
sein. Es gibt sogar ein "Party Shuttle", einen alten Toyota Pickup, der hier
die Seitenstraße abfährt und die Partygänger
einsammelt.
Keiner fragt erst lange ob ich überhaupt mitfahren will, mein Fahrrad
wird einfach aufgeladen. Heute fahre ich aber gerne mit, das erspart
mir eine oder eineinhalb Stunden in die falsche Richtung. Morgen muss
ich die gleiche Strecke wieder zurück, um zurück zur Transamazonica zu
kommen.
Noch 2 oder 3 Stops, um Passagiere zuzuladen, dann zähle ich: 16
Personen, 5 Hühner, ein Hund, 5 Schrotflinten, eine davon genau auf
mich gerichtet, 10 große Taschen, ein Fahrrad und, das allerwichtigste,
eine Flasche Cachaça. Der Fahrer jagt sein Gefährt mit Vollgas über die
Piste, Gepäck und Passagiere werden hin und her geschmissen und ich
frage mich, ob es wirklich eine so gute Idee war, diese 10 Kilometer
abzukürzen.
10 Minuten später sind wir in der Stadt und die mittlerweile geleerte
Schnapsflasche wird mitten auf die Straße geworfen.
Jacareacangas Name ist größer als die Stadt selbst. Der Ort hat
vielleicht 1000 Einwohner, sein Zentrum ist gerade mal 2 Häuserblocks
lang und einen Block breit. Aber es gibt alles, was man braucht. Ein
Hotel, einen Krämerladen, eine Apotheke, eine Post und sogar ein
öffentliches Telefon. Es ist die größte Stadt auf den nächsten 800
Kilometern.
Bevor ich mich den Annehmlichkeiten der modernen Zivilisation hingebe
fahre ich noch ein paar Meter aus die Stadt hinaus an die Strände des
Rio Tapajos. Der Tapajos ist einer der schönsten Flüsse des Amazonas.
Es führt klares Wasser, es gibt große, weiße Sandstrände, viele kleine
Stromschnellen und Wasserfälle und immer noch jede Menge Natur. Die
Stromschnellen verhindern ein einfaches Navigieren, die 1500
Flusskilometer oberhalb von Itaituba können nur von kleinen Booten
befahren werden, und dementsprechend dünn sind seine Ufer besiedelt.
Nach einem ausgiebigen Bad im Fluss lasse ich in einer Werkstatt noch
die Öse meines vorderen Gepäckträgers schweißen, dann verfrachte ich
meine Habseligkeiten ins Hotel und mache mich schick für den Event des
Jahres: Ein neues Restaurant hat aufgemacht, und das sollte doch Anlass
genug für eine große Party sein.
Von hier aus bis zum nächsten großen Fluss, dem Rio Madeira, sind es
noch 800 Kilometer. Ich schätze, das dieser Abschnitt der schwierigste
dieser Tour werden wird. Auf der Landkarte schaut es sehr hügelig aus,
es geht über zahllose kleine Flüsse und es gibt unterwegs kaum
Ortschaften. Aber die Einheimischen versichern mir, dass es nicht arg
hügelig sei...
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Micha
<-- weiter mit Teil 5