28. Oktober
Nachdem die letzten Hütten Altamiras hinter mir liegen geht es hügelig
weiter, aber nicht mehr ganz so steil wie in den letzten Tagen. Und was
ich schon gar nicht mehr für möglich gehalten habe: ab und zu kommen
sogar mal ein paar richtig flache Teilstücke. Die Sonne scheint und ich
komme gut voran.
Gegen meinen "Sonnenbrand" habe ich mir ein langärmliges Hemd in
Übergröße zugelegt. So kann ich den Ärmel bis über die Handrücken
ziehen, aber vorne zwecks besserer Kühlung alle Knöpfe offen lassen.
Schaut zwar ziemlich bescheuert aus, wie es so vor sich hinflattert,
aber es erfüllt seinen Zweck.
Viele Leute sehen mich ohnehin nicht mehr, denn die Verkehrsdichte hat
deutlich nachgelassen. Dörfer und Städtchen gibt es aber immer noch in
regelmäßigen Abständen.
Diese Siedlungen sind wirklich ein Kapitel für sich: Ehedem auf dem
Reisbrett für zig-tausend Siedler entworfen, wurden sie zunächst einmal
mit allem was dazugehört ausgestattet. Gekommen bzw. geblieben sind
aber nur wenige, und so rottet jetzt vieles dahin.
Eine Ortschaft, ich glaube es war "Novo Brasil", ist besonders lustig:
Die Transamazonica weitet sich dort auf mehrere parallel verlaufende
Spuren aus. Dazwischen gibt es Alleebäume, große Kreisverkehre,
Straßenlaternen, ehemalige Blumenrabatte und was so alles dazugehört.
Alles wäre eigentlich recht pompös, nur will es irgendwie nicht zu dem
roten Dreck passen, aus dem die Straßen natürlich auch hier im Ort
bestehen, und die Handvoll Hütten, die den Straßenrand säumen, wirken
auch irgendwie recht verloren.
Ein Riesenradau herrscht trotzdem. Brasilianer lieben Lärm. Nicht genug
mit den unzähligen kläffenden Hunden und krähenden Hähnen, die es
praktisch vor jeder Hütte gibt. Die Ortschaften scheinen sich
gegenseitig mit ihren zentralen Beschallungsanlagen übertreffen zu
wollen. An Laternen, Hauswänden oder Mauervorsprüngen sind zahlreiche
krächzende Lautsprecher angebracht, aus denen von früh bis spät die
gleiche Musik düdelt. Unterbrochen wird das ganze immer wieder von
aufdringlichen Werbeslogans für die ansässigen Wirtschaftsunternehmen,
gelegentlich kommen auch die örtlichen Nachrichten, mit Durchsagen wie
"Achtung, Achtung... krächz...pfeif... pieeeeeeep.... der Bus nach
Altamira fährt voraussichtlich irgendwann im Laufe des Nachmittags
durch.. krächz... schepper.... heute Vormittag ist der Hund von Dona
Maria über die Hauptstraße gelaufen.... krächz... pieeeeep.... Achtung,
Achtung: bei Tante Emma gibt's Bananen für 20 Centavos pro Kilo...
krächz... Latest News: der Papagei von Sinha Vitoria ist heute morgen
tot von der Stange gefallen.... fiiiiiepppp.....". Dann kommt wieder
die Lieblingsmusik des örtlichen DJs, bevor das ganze von vorne
beginnt.
Läden, die sich keinen Auftritt in den lokalen Nachrichten leisten
können, platzieren ihren eigenen Marktschreier auf dem Bürgersteig
(sofern es einen Bürgersteig gibt), der über sein Megafon oder über
Lautsprecheranlagen jedem arglosen Passanten seine Sonderangebote
hinterher schreit. In Ortschaften, die mehr als nur die Hauptstraße
haben, kann man optional noch Autos mit Flüstertüten auf dem Dach
zirkulieren lassen, die von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang zur
geschmackvollen Abrundung des Klangbildes beitragen.
Einen Vorteil hat das ganze aber doch für den hungrigen und durstigen
Radfahrer: Man kann meilenweit vorher hören, wenn man sich einer
Ortschaft nähert...
Seit ich Altamira verlassen habe hat der Verkehr deutlich nachgelassen.
Manchmal habe ich die Transamazônica stundenlang für mich alleine.
Voraus liegen jetzt nur noch zwei richtige Städte: Itaituba und
Santarem. Letztere liegt zudem noch auf einer 300 km langen
Seitenstraße, an den Ufern des Amazonas und des Rio Tapajós. Die Flüsse
sind nach wie vor die wirklichen Hauptverkehrsweg durch diese Gegend.
Der Amazonas ist bis weit ins Landesinnere auch für größere
Ozeandampfer befahrbar, und auch der Rio Tapajós ist bis zu seinen
ersten Stromschnellen oberhalb von Itaituba problemlos schiffbar. Der
Warenverkehr für diese beiden Städte erfolgt daher fast ausschließlich
auf dem Wasserweg, und auf der Transamazonica verkehrt fast nur noch
der lokale Verkehr.
Unter den noch verbliebenen LKW-Fahrern bin ich mittlerweile bekannt wie
ein bunter Hund. Viele halten sogar kurz an und fragen, ob ich
irgendwelche Hilfe brauchen würde oder ob sie mich ein Stück mitnehmen
sollen. Lustigerweise fragen das sogar die, die in die entgegengesetzte
Richtung
fahren...
Oft wird mir ganz stolz berichtet, wann sie wo schon einmal an mir
vorbeigefahren wären. Nur sind sie dann gelegentlich beleidigt, wenn
ich mich daran nicht erinnern kann. "Was, hast du mich denn nicht
gesehen? Ich hab dir doch vor einer Woche aus dem Führerhaus
zugewunken..."
Meinen Namen kann sich keiner merken, aber man tituliert mich ohnehin
viel lieber als "o Louco" oder "o Doido"...
An diesem Tag schaffe ich über 100 Kilometer, und wie so oft lasse ich
mich am Abend in eine kleine Farm rollen.
Dieses Mal erwische ich eine ganz besonders lustige. Sie wird
gemeinschaftlich von 3 Familien betrieben. In einer Ecke steht, schon
leicht überwuchert, ein alter VW Käfer, für dessen Unterhalt die
Barschaften zur Zeit nicht mehr ausreichen. In der Mitte zwischen den 3
Häusern gibt es einen großen Feuerplatz, um den sich nach dem
Abendessen alle versammeln. Bis weit nach Mitternacht werde ich bei
reichlich Bier (irgendwie sogar eisgekühlt, obwohl es nirgends Strom
gibt...) mit neugierigen Fragen traktiert, bis schließlich auch meine
Gastgeber müde werden, denn normalerweise geht man hier recht früh zu
Bett.
Als ich schließlich in mein Zelt schwanke finde ich zu allem Überfluss
auch noch eine große Spinne auf meinem Kopfkissen. Ich hätte den
Reisverschluss vielleicht doch ordentlich zumachen sollen...
29. Oktober
Am nächsten Morgen ist es wieder einmal sehr sonnig. Ich hatte bisher
Glück, es hat nur sehr wenig geregnet, mal abgesehen von dem Regentag
in Tucurui nur Nachts oder nur für ein paar Minuten.
Die Straßenverhältnisse sind in diesem Teilstück hundsmiserabel. Ich
bin so sehr mit der Straße beschäftigt, dass ich überhaupt nicht
bemerke, wie langsam immer dunklere Wolken am Himmel aufziehen.
Die bemerke ich erst, als die ersten Regentropfen herunterfallen. Hinter mir
höre ich ein lautes Tosen. Fünf Sekunden später bin ich bis auf die Knochen
durchnässt, und nach
weiteren fünf Sekunden ist aus dem feinen Straßenstaub flüssiger
Schlamm geworden.
Habe ich mich eben noch über den Staub und die Schlaglöcher aufgeregt?
Ich wollte, ich hätte sie wieder, denn jetzt geht überhaupt nichts
mehr. Nur 500 Meter weiter vorne sehe ich einen kleinen Bauernhof, aber
obwohl es sogar leicht bergab geht habe ich keine Chance. Die Reifen
sammeln innerhalb weniger Meter derart viel Schlamm auf, dass sie sich
nicht mehr weiterdrehen lassen. Auch tragen geht nicht, mit wasweißich
wie vielen Kilos Schlamm die da zwischen Reifen und Rahmen hängen. Da hilft
nichts weiter als das Fahrrad am Straßenrand stehen zu lassen und zu
Fuß zur trockenen Hütte zu laufen. Oder besser gesagt barfuss zu
schlittern, denn auf dem glitschigen Schlamm geht man wie auf Eis.
Ausgerechnet jetzt donnert auch noch mit Karacho ein LKW vorbei,
der mich von oben bis unten voll Schlamm spritzt. Aber es ist so
rutschig, das auch er nicht mehr weit kommt. Am nächsten Hügel reicht
der Schwung nicht mehr und er rutscht rückwärts wieder nach unten, bis
er irgendwann quer zur Fahrbahn zum Stillstand kommt. Der Fahrer
versucht erst gar nicht, sich aus seiner misslichen Lage zu befreien,
sondern er schaltet den Motor ab und wartet auf besseres Wetter.
Der Farmbesitzer winkt mich schon aus weiter Entfernung zu sich hinein,
ich bekomme ein Handtuch zum abtrocknen und für die nächsten 3 Stunden
sitze ich gemütlich im Schaukelstuhl auf seiner Veranda. Der Regen
trommelt wie blöd oben aufs Blechdach, man versteht kaum sein eigenes
Wort, und ringsum steigen dampfende Nebelschwaden aus den durchnässten
Wäldern.
Am Nachmittag, als es endlich aufhört zu regnen, versuche ich
weiterzukommen. Aber es erweist sich als fast unmöglich. Alle 50 bis
100 Meter muss ich anhalten und zig Tonnen Lehm vom Rad kratzen. Das
Zeug fühlt sich an wie zäher Kuchenteig und klebt einfach überall fest.
Wenn ich die Räder endlich wieder freigelegt habe kann ich für ein paar
Sekunden weiterschieben, dann geht die Prozedur von vorne los. Warum
ich überhaupt weitermache? Weil 3 oder 4 Kilometer weiter vorne ein
Wirtshaus kommen soll, und das will ich unbedingt noch erreichen.
Nach eineinhalb Stunden bin ich endlich dort. Endlich ein kühles Bier,
um Dreck und Frustration runterzuspülen. Die Bar ist voll besetzt, vor
der Tür stehen ein altes Auto und mehrere Pferde. Die Stimmung ist
ausgelassen, offenbar freut man sich über das Regenwetter, weil man da
zuhause einen guten Vorwand hat, etwas länger auszubleiben... Einer der
Gäste ist übrigens ein Gaucho, also ein Brasilianer aus dem südlichen
Zipfel des Landes, wenngleich er schon seit über 20 Jahren hier wohnt.
Seine Familie ist deutschstämmig, und so sind die anderen nicht wenig
verblüfft, als wir plötzlich auf deutsch weiterreden. Verblüfft
deshalb, weil viele offenbar glauben, deutsch sei dieser komische
Akzent, den die oft deutschstämmigen Gauchos sprechen, und nicht etwa
eine völlig andere Sprache. Aus dem gleichen Grund werde ich auch oft
gefragt, ob ich denn nun aus Rio Grande do Sul, Paraná oder Santa
Catarina käme, wenn ich sage, ich sei Deutscher...
Selbstverständlich werde ich dann zum Übernachten auf seine Farm
eingeladen. Bis dorthin sind es noch mal 2 anstrengende Kilometer, aber
meine Bemühungen werden mit echtem, selbstgemachtem Brot, Würstchen und
Sauerkraut belohnt.
30. Oktober
Es hat aufgehört zu regnen, aber es ist noch immer stark bewölkt.
Nachdem ich den angetrockneten Lehm mit einem Schraubenzieher vom
Fahrrad gemeißelt habe geht's los.
Sonderlich stark ist die Straße noch nicht abgetrocknet. Manchmal kann
ich ein Stück fahren, dann kommen wieder Ecken, wo man einfach
stecken bleibt.
Dieses Spielchen geht den ganzen Tag so weiter. Fahren, schieben,
putzen, fahren, schieben, putzen.... Die Wolken scheinen nur auf mich zu
warten. Kaum
ist es einigermaßen angetrocknet, schon fängt es wieder an zu regnen.
Zwischendurch probiere ich öfters mal aus, ob ich das Rad nicht tragen
kann, bevor es vor lauter Dreck zu schwer wird. Dummerweise sind die
unpassierbaren Stellen meistens auch ziemlich glitschig, so dass ich
meine Versuche nach mehreren schmerzhaften blauen Flecken einstelle.
Bei allzu heftigen Schauern suche ich meistens Zuflucht in einer Hütte,
aber sobald das Wasser wieder einigermaßen abgelaufen ist, versuche ich
weiterzukommen. Bis zum Abend schaffe ich 40 Kilometer.
Kurz vor Einbruch der Dämmerung ist nirgends eine Menschenseele zu
blicken. Aber ich entdecke rechts einen alten, ziemlich zugewucherten
Trampelpfad, der tief in den Wald führt. Ich folge ihm ein paar hundert
Meter, bis ich an eine kleine Lichtung komme, auf der mehrere alte
Kakaobäume stehen. Ein herrlicher Platz zum Zelten.
31. Oktober
"Saude" prosten mir zum tausendsten Mal an diesem Tag die beiden
Trucker zu. Seit Stunden sitzen wir hier in dieser schäbigen Bar an der
Transamazonica fest. Der strömende Regen macht ein Weiterkommen schier
unmöglich. Seit den frühen Morgenstunden schüttet es wie aus Kübeln und
die Piste besteht nur noch aus unpassierbarem Matsch und Schlamm. Dabei
bin ich noch heilfroh, es bis hierher geschafft zu haben. Eineinhalb
Stunden habe ich gebraucht, um mein lehmverschmiertes Fahrrad die
letzten 3 Kilometer bis hierher zu zerren.
2 Lkws und ein Pickup waren schon vor mir hier, auch für sie gab es
kein Entkommen vor der tropischen Schlechtwetterfront. Zusammen
vertreiben wir uns die Zeit so gut es geht, der Wirt freut sich über
soviel unerwarteten Umsatz.
Dieses Pisswetter hat mir einen ordentlichen Strich durch die durch die
Rechnung gemacht. Nach meinen Hochrechnungen hätte ich heute eigentlich
schon in Itaituba sein wollen, aber jetzt brauche ich noch mindestens 2
Tage.
Außerdem weiß ich immer noch nicht, ob und wie es nach Itaituba
weitergeht. Alle drei Fahrer und auch die übrigen Gäste behaupten steif
und fest, das in Itaituba Endstation wäre. Danach sei die Straße schon
seit Jahrzehnten unpassierbar und zugewuchert. Das wäre natürlich
fatal, denn meine einzige Alternative wäre dann, von Itaituba bis Porto
Velho entweder zu fliegen oder über Rio Tapajós, Amazonas und Madeira
mit dem Boot zu fahren, eine ziemlich zeitaufwendige Angelegenheit.
Ich höre zwar schon die ganze Zeit derartige Geschichten, nach dem
Motto "bis hierher war's gut, aber nach dem nächsten Hügel wird die
Straße viel schlechter und außerdem wohnen im Nachbardorf nur Räuber und
Diebe".
Bisher habe ich nie viel drauf gegeben, denn seit fast 1000 Kilometern
schwankt die Qualität der Piste fast kilometerweise zwischen "nicht
übel" und "grottenschlecht" hin und her.
Aber so langsam mache ich mir wirklich Sorgen. Bisher habe ich noch
niemanden getroffen, der mir bestätigen konnte, dass die Straße noch
existiert, geschweige denn jemanden der dort schon mal gefahren ist. So
überzeugt, wie die 3 Fahrer sich geben kann ich mir mein Vorhaben
womöglich tatsächlich abschminken.
Einer der Fahrer war übrigens schon dabei, als die Straße vor einem
Vierteljahrhundert gebaut worden ist, und er kann mir erklären, warum
es immer so steil wie möglich auf den höchsten verfügbaren Punkt geht:
Wenn man die Straße nämlich schräg am Hang gebaut hätte, wäre sie schon
vom nächsten ordentlichen Regenguss davongespült worden, es sei denn
man hätte aufwändige Gräben und Drainagen angelegt. Und unten im Tal
entlang ging auch nicht, weil man dort unzählige Brücken und Dämme
gebraucht hätte und zu jeder Regenzeit wegen Hochwasser nicht
weitergekommen wäre. Das kommt man jetzt zwar auch nicht, aber
ursprünglich war ja mal geplant, die Strecke auch noch zu asphaltieren.
Ich weiß nicht, ob die Story so stimmt, aber irgendwie klingt's logisch
und für den gemeinen Radfahrer wenig erfreulich...
Am Nachmittag geht's doch noch einigermaßen weiter, und ich liefere mir
ein Rennen mit den beiden LKWs: Auf flachen Stücken preschen sie immer
wieder an mir vorbei, dafür bleiben sie an den glitschigen Steigungen
immer wieder liegen, wo ich zu Fuß hoch kann.
In stockdunkler Nacht erreiche ich Rurópolis, eine kleine Ortschaft an
der Abzweigung nach Santarem. Die Lkws sind auch erst vor einer knappen
Stunde eingetroffen, und jetzt wundern sich alle, wie ich es denn bis
hierher geschafft hätte... irgendwie wundere ich mich selbst auch.
Im Laufe des Abends darf ich meine Story 20 bis 30 mal zum besten
geben, und immer wieder werde ich auf eine Engländerin hingewiesen, die
hier vor über 20 Jahren durchgeradelt sei. Sie ist zwar eigentlich
Neuseeländerin, aber ich nehme an, man meint damit Luice Southerland,
deren Buch ich vor Jahren mal durchgeblättert habe...
1. November
Noch ein verregneter Tag, es gibt nicht viel neues zu berichten. Es
nieselt den ganzen Tag vor sich hin, wenn es nicht gerade schüttet.
Graues Herbstwetter, nur halt 20 Grad wärmer als bei uns daheim.
Es geht besser voran als in den vergangenen Tagen. Entweder ist das
hier eine andere Matschsorte oder die Regenmenge passt irgendwie gerade
so, keine Ahnung. Jedenfalls kann ich oft im Nieselregen fahren,
barfuss und "oben ohne". Ich fahre immer in den kleinen Bächen und
Rinnsalen die sich auf der Straße gebildet haben, so dass der Dreck
immer gleich wieder abgewaschen wird. Wenn der Regen heftiger wird muss
ich aber immer wieder anhalten, und bis zum Mittag habe ich alle meine
Bücher ausgelesen: "Homo Faber" von Max Frisch und, ironischerweise
"Vidas secas" von Graciliano Ramos, beides Bücher, an denen ich
normalerweise ein halbes Jahr lang lesen würde...
Die Nacht verbringe ich wieder einmal auf einem Bauernhof. Der Hausherr
hat ungefähr mein Alter, aber es turnen schon 6 Kinder um ihn herum.
Man erzählt mir ungewöhnlich offen von den Sorgen und Mühsalen, die man
so als Siedler an der Transamazonica hat. Mein schöner romantischer
Zeltplatz von vorgestern, unter den verwilderten Kakaobäumen? Die sind
wahrscheinlich, wie die Pflanzungen vieler anderer, einem Pilz zum
Opfer gefallen, der hier seit ein paar Jahren wütet. Export von
eventuell anfallenden Überschüssen? Nur die wenigsten Produkte würden
überhaupt den Transport auf der Holperpiste überstehen, und selbst die
müsste man für wenig Geld an einen Großhändler verkaufen, der das Zeug
zum Weiterverkauf zig tausend Kilometer weit bis Rio oder Sao Paulo
schaffen müsste.
Ja, und wenn jetzt bald die Regenzeit losgeht (Nein, der leichte
Landregen in den letzten Tagen habe damit noch nichts zu tun), dann
geht für die nächsten 3 bis 4 Monate gar nichts mehr. Ihm selbst würde
das ja nicht so viel ausmachen, aber wenn mal seine Frau oder eines der
Kinder zum Arzt müssten, na dann gute Nacht.
Im Laufe des Abends kommen wir irgendwie auch auf das neue
Bildungsprogramm für Erwachsene zu sprechen, das die Regierung hier kürzlich
gestartet hat. Er fühlt sich ein wenig indigniert, als mir seine Frau
erzählt, das er daran teilnimmt. Er war selbst eines von 10 Kindern aus
einer armen Familie und hatte niemals die Möglichkeit, zur Schule zu
gehen. Er kann weder lesen noch schreiben noch rechnen. Erst jetzt
versucht er nachzuholen, was ihm in seiner Kindheit vorenthalten war.
Nachts höre ich von meinem Nachtlager aus, wie ihm seine Frau
Schreibunterricht erteilt. Dann trommelt wieder der Regen aufs Zelt.
2. November
Blauer Himmel!!! Endlich hat es aufgehört zu regnen.
Nach einer herzlichen Verabschiedung begebe ich mich gleich wieder auf
die Piste. Es ist immer noch ziemlich matschig, aber innerhalb
kürzester Zeit hat die Sonne den Lehm an der Oberfläche soweit
getrocknet, das er sich nicht mehr an die Reifen hängen will.
Gegen Mittag wage ich es dann sogar, das Fahrrad gründlich zu
entschlammen und zu waschen. Wie leicht es sich doch plötzlich fährt
wenn die Räder nicht mehr im Schlamm feststecken, das Gefährt nur noch
halb soviel wiegt und zumindest die hintere Schaltung wieder
funktioniert...
Endlich kann ich die Landschaft wieder so richtig genießen. Ich lasse
keine Gelegenheit zum baden aus.
Dabei wundere ich mich warum manche Flüsse richtig kaltes Wasser haben.
Ich meine, es hat doch hier seit Jahrmillionen 25 bis 35 Grad, der
Regen fällt mit genau der gleichen Temperatur herunter und alles andere
ist ja auch brühwarm. Wo also kühlt sich das Wasser derart ab? Ich
stehe vor bzw. sitze in einem Rätsel.
Ich habe keine 30 Kilometer mehr vor mir, es ist noch früh am
Nachmittag, und die Straße wird von Stunde zu Stunde besser. Ich habe
also keinen Grund zur Eile.
Dachte ich mir zumindest, bis ich die dunklen Gewitterwolken bemerke, die
sich unauffällig hinter mir aufgetürmt haben. Wenn es jetzt wieder anfängt
zu regnen wird's heut Abend nichts mit Bier und Brotzeit in Itaituba. Also
nichts wie aufs Fahrrad schwingen und lossprinten, denn jeder Kilometer, den
ich jetzt noch schaffe, erspart mir viel Zeit und Mühe, wenn es wieder
feucht wird.
Zwei Stunden lang verfolgen mich die Regenwolken über Berg und Tal. Die
ersten Tropfen erwischen mich schon, nur knapp hinter mir kommt wie ein
Vorhang der Regen heruntergerauscht. Dann stehe ich auf dem letzten Hügel
vor Itaituba, mit einem herrlichen Blick hinunter ins Tal des Tapajós.
Zum ersten mal werde ich für eine Fährüberfahrt zur Kasse gebeten.
Umgerechnet 50 Pfennig muss ich berappen, und man braucht geschlagene 10 Minuten, um den Quittungsblock für Fahrräder zu finden, ordnungsgemäß auszufüllen und abzustempeln. Lang lebe die Bürokratie.
Der Regen zieht dann übrigens doch noch an mir vorbei. Die Überfahrt dauert
über eine halbe Stunde, und auf der anderen Seite landet die Fähre mitten im
Zentrum von Itaituba. Eine richtige Stadt, sogar mit geteerten Straßen!! Das
erste, was ich tue, ist eine Runde
freihändig um den nächsten Häuserblock zu drehen. Wenn mich jetzt einer
gesehen hat hält er mich wahrscheinlich für völlig bescheuert.
Dummerweise komme ich genau an einem Feiertag an, heute ist der "Dia
dos mortos", also so eine Art Totensonntag, und so schaut die Stadt
auch aus. Aber am Abend kommen die Leute wieder aus ihren Löchern, und
unten am Strand wird sogar eine Party geschmissen
Ins Hotel finde ich aber noch vor Sonnenaufgang zurück...
Als nächstes folgen jetzt 400 km entlang des Rio Tapajós. An
irgendeiner Theke habe ich einen Jeepfahrer aufgetan, der "regelmäßig"
bis nach Jacareacanga fährt, was nach seiner Aussage bis auf eine
kleine Hüttensiedlung die einzige Stadt auf der gesamten Strecke sein
soll. In meiner Landkarte sind zwar zahlreiche Ortschaften
eingezeichnet, aber ich bin ja schon froh zu hören, das es die Straße
überhaupt noch geben soll. Ich werde also morgen mal mein Glück
versuchen.
Bis demnächst
Micha
<-- weiter mit Teil 4