Als ich frühmorgens aus dem Fenster schaue werde ich von strahlendem
Sonnenschein geblendet. Nach zwei verregneten Tagen ist jetzt keine
Wolke mehr am Himmel zu sehen. Also nichts wie meine Siebensachen
zusammengepackt und los.
Busse runter zum Staudamm fahren jetzt zum Schichtwechsel alle paar
Minuten. Ich komme mir ein wenig fehl am Platz vor, so ziemlich als
einziger im vollgedrängten Bus habe ich keinen Blaumann an und keinen
Helm auf dem Kopf, demzufolge bin ich auch sofort als Touri ausgemacht.
Bis zur Endstation unterhalte ich allen Fahrgästen als willkommene
exotische Abwechslung auf der allmorgendlichen Fahrt zur Arbeit.
>
Es folgt noch ein längerer Fußmarsch und eine kurze LKW-Fahrt. Bis ich
wieder bei der kleinen Bar bin und mein Fahrrad in Empfang nehmen kann
sind locker eineinhalb Stunden ins Land gegangen.
"Schade das du wieder da bist, jetzt wollte ich dein Bicicleta schon
verkaufen" scherzt der nette Besitzer der Bar, als ich ihn beim
morgendlichen Großreinemachen störe.
Ob er denn schon einen Interessenten gefunden hätte, möchte ich wissen,
aber anstatt einer Antwort drückt er mir erst mal einen Becher
hochprozentigen Cachaça in die Hand, kein guter Start frühmorgens um
halb 8...
Vor dem losfahren packe ich mein Gepäck neu. Jetzt auf der holprigen
Dreckpiste lege ich schon etwas mehr Wert auf eine ordentliche
Gewichtsverteilung als zuvor auf dem glatten Asphalt.
Bei der Gelegenheit sondere ich auch gleich etliche Kilo an Reis,
Nudeln und Sößchen aus, da schon jetzt abzusehen ist, daß ich zumindest
auf den nächsten paar hundert Kilometern doch nicht durch ganz so
abgelegenes Gebiet kommen werde wie man mir in Belém hat Glauben
machen. Das Ganze wird sorgfältig verpackt und der Dame des Hauses
übergeben, damit habe ich auch gleich meine "Garagenmiete" bezahlt.
Um aber aufgrund fehlenden Gewichts nicht übermütig zu werden, wird
mein Wasservorrat um eine Flasche vergrößert. Statt fünf schleppe ich
jetzt 7 Liter mit mir herum, also genug für ungefähr einen halben Tag.
Schon nach ein paar Minuten ist vom nahen Städtchen mit seinem
geschäftigen Treiben nichts mehr zu erahnen. Bis zur nächsten
Ortschaft, Novo Repartimento, sind es ungefähr 70 Kilometer in Richtung
Süden. "Novo" deshalb, weil das alte Repartimento in den Fluten des
Stausees versunken ist. Immerhin können sich die Einwohner noch
glücklich schätzen, vor dem Schließen der Stautore umgesiedelt worden
zu sein. Den "Wilden", die in dem Gebiet hausten, war dieses Glück
nicht beschert.
Die Strecke wird immer hügeliger. Immer öfter geht es rauf und runter,
und das in einer Steilheit, das einem Angst und Bange wird. Aber dies
ist ja nur eine kaum benutzte Nebenstrecke, und ich denke mir, daß es
später auf der Hauptstraße wohl etwas gemütlicher zugehen wird.
Gelegentlich tauchen kleinere gerodete Flächen auf, zur linken hat man
des öfteren einen schönen Blick auf den See, ansonsten aber dominiert
das Grün des Urwalds.
Nur sehr wenige Fahrzeuge benutzen diese "Abkürzung". Für die Insassen
motorisierter Fahrzeuge ist es wesentlich angenehmer und auch
schneller, auf der zwar 100 Kilometer längeren, dafür aber geteerten
Straße zuerst bis runter nach Marabá zu fahren, bevor man auf die
Transamazonica abbiegt. Demzufolge begegnen mir auf der ganzen Strecke
auch gerade mal 3 Fahrzeuge. Und das ist gut so, denn die
Staubentwicklung eines vorbeidonnernden Lkws ist enorm.
Die Sonne knallt in altbekannter Stärke herunter, aber irgendwie kommt
es mir nicht mehr ganz so quälend vor wie zuvor. Entweder habe ich mich
schon einigermaßen an die schwüle Hitze gewöhnt, oder es heizt sich
ohne den schwarzen Asphalt doch nicht mehr ganz so auf...
An die holprige Piste muß ich mich allerdings erst wieder gewöhnen.
Jedes übersehene Schlagloch tut mir in der Seele weh. Fahrrad,
Gepäckträger und Taschen haben zwar schon schlimmeres überstanden,
dennoch gilt mein besorgter Blick nach jedem kräftigen "Kawumm" meinen
Gepäckträgern. Aber nach ein oder zwei Stunden habe ich dann doch
andere Sorgen.
Wenn man nämlich die Hügel aufgrund ihrer Steigungen hochwärts schieben
und runterwärts mit bis zum Anschlag gezogenen Bremsen fahren muß,
erreicht man kaum kritische Geschwindigkeitsbereiche.
So dauert es bis weit in den Nachmittag hinein, bis ich endlich Novo
Repartimento erreiche, und dort auch die BR230, die offizielle
Transamazônica.
Viel sehenswertes gibt es in der Ortschaft allerdings nicht zu
bestaunen. Existenzgrundlage scheint einzig und allein die Versorgung
der Trucks auf der Transamazonica zu sein. In fast jeder der Hütten
entlang der Straße wird eine Tankstelle, Autowerkstatt, Reifenflickerei
oder ein "Restaurant" betrieben. Vor den Tankstellen glitzern
Altöllachen in der Sonne, rund um die Autowerkstätten türmen sich die
Schrottberge, vor den Reifenflickern stapeln sich die Altreifen und
Restaurants sind an den davor herumstöbernden Hühnern und Schweinen zu
erkennen.
Dennoch gönne ich mir ein verspätetes Mittagessen, das typische
brasilianische Standardgericht, Reis, schwarze Bohnen, ein paar Brocken
Fleisch, und über das ganze eine ordentliche Fuhre Maniokmehl. Dazu
gibt's zwei Bier, zur Feier der ersten 70 Kilometer "Offroad".
In ganz Südamerika wird man keine noch so kleine oder abgelegene
Wirtschaft finden, in der nicht ein Fernsehgerät herumsteht, und wenn
es dort auch noch Strom gibt kann man davon ausgehen, das die Kiste in
voller Lautstärke läuft.
Gerade wird irgendein Fußballspiel übertragen und dementsprechend voll
ist der Laden. Für mich hat das den Vorteil, das ich in Ruhe essen kann
und keine Fragen beantworten muss, denn alles blickt gebannt auf den
Bildschirm.
Erst nach dem Schlusspfiff werde auch ich in die heftigen Debatten
einbezogen. Welcher denn mein Lieblingsclub sei und wer denn wohl heuer
den Meisterpokal holen wird, will man von mir wissen. Puuuuuh, ich
hätte mich vor der Abreise vielleicht doch etwas über den
brasilianischen Fußball und vor allem über die aktuellen Tabellenstände
informieren sollen... Meine Ausrede, das ich mich als Deutscher nicht
so gut mit den brasilianischen Vereinen auskenne hilft mir auch nicht
weiter, denn zu meiner Schande muss ich gestehen, dass fast jeder in
der Hütte, außer mir, die Namen der deutschen Nationalmannschaft
zusammenkriegt, und auch die aktuellen Spielstände zumindest der ersten
Bundesliga können aus dem Stehgreif rezitiert werden. Aber mein Konter,
des ich nur weniche Kilomeder von da wo der Loddah Matthäus herkommen
dud wohn, zieht dann doch, und zu guter Letzt wird mir sogar eine
frappierende Ähnlichkeit mit ihm unterstellt. Naja...
Ich biege jetzt in Richtung Westen ab, und ab hier ist auch wesentlich
mehr Verkehr als zuvor. Natürlich immer noch nicht viel, aber immerhin,
so 5 bis 10 Laster pro Stunde werdens schon sein, und jedes Mal werde
ich in dicke Staubwolken gehüllt.
Bis zum Einbruch der Dämmerung schaffe ich noch etliche Hügelchen, dann
verkrieche ich mich wieder einmal ins Unterholz.
Der nächste Tag beginnt wie der gestrige geendet hat: Hügel, Hügel,
Hügel. Wo die Leute nur das mit der "Amazonasebene" herhaben. Die
Buckel sind nicht sehr hoch, meistens so um die 50, maximal 100 Meter
Höhenunterschied, aber teilweise unverschämt steil, bis zu 20%, schätze
ich. Der Fachmann bezeichnet das ganze schlicht als eine "durch
fluviale Abtragung entstandene Reliefunruhe", wie ich gelernt habe,
aber das tröstet mich hier nur wenig.
Das läuft dann ungefähr so ab: Hochwärts schieben, oben, wenn's flacher
wird, erst mal verschnaufen, dann mühsam aufs Rad schwingen, anfahren,
ein paar Meter über die Bergkuppe fahren, und dann bergab mit voll
gezogenen Bremsen in Schrittgeschwindigkeit, da man sonst unten nie
mehr zum stehen kommen würde. Und das muss man, denn dort geht's
meistens über irgendwelche klapprigen Brücken oder Holzstegs, über die
man besser zu Fuß geht. Schwung mitnehmen für den nächsten Anstieg ist
also nicht.
Irgendwie kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, das die Piste
unten im Tal immer nur deshalb einen Knick nach rechts oder links
macht, um dann schnurstracks den steilsten verfügbaren nächsten Hügel
anzusteuern, und zwar immer genau bis auf den höchsten Punkt. Das ist
zwar ganz nett, da man von dort oben immer eine recht schöne Aussicht
auf die grüne Hügellandschaft ringsum hat, andererseits sieht man von
dort aber auch wie schön man die Straße mit nur wenigen Kurven unten im
Tal entlang hätte bauen können.
Ich habe keine Ahnung, was sich dieser Ingenieur, der für diesen
Straßenabschnitt zuständig war, dabei gedacht hat. Vielleicht hatte er
ja was gegen Radfahrer, und so langsam steigere ich mich in einen
richtigen Hass gegen den Typen rein. Andererseits, einen 20 oder 30
Tonnen schweren LKW die Berge hoch und runter zu bugsieren ist sicher
auch kein Spaß. Vielleicht war's ja doch nicht gegen die Radfahrer
persönlich, sonder der Kerl war einfach beleidigt, weil er aus seinem
schönen Rio hierher in den dampfenden Dschungel versetzt worden ist...
Jeder Schatten und jeder halbwegs klare Bach bietet Gelegenheit zu
einem kurzen Päuschen, als Durstlöscher dient das mittlerweile kochend
heiße Wasser aus der Plastikflasche. So alle 30 bis 50 Kilometer taucht
eine kleine Bar oder gar eine Ortschaft auf, also habe ich 2 bis 3 mal
pro Tag Gelegenheit, etwas anständiges zu essen und vor allem gekühlte
Getränke zu erwerben.
Im Schnitt benötige ich fast 15 Liter Flüssigkeit pro Tag. Zwei Drittel
davon sind Wasser, der Rest besteht aus Cola, Fanta, Guaraná, und vor
allem aus eiskaltem Bier, das es hier je nach Bar in einer der 3 großen
nationalen oder der einen regionalen Marke zu kaufen gibt und die
allesamt einigermaßen trinkbar sind.
Nach Trinkwasser kann man an jeder Hütte entlang der Piste fragen. Die
meisten filtern das Wasser aus ihren Brunnen oder dem nächsten Bach
durch große Keramiktanks. Angeblich soll es dann relativ unbedenklich
zu trinken sein. Manchmal werfe ich noch eine Micropur-Tablette mit
hinein, aber meistens trinke ich es gleich so, schließlich habe ich
keine Lust, 2 Stunden zu warten, bis die Tabletten wirken. Bis dahin
wäre das Wasser ja schon wieder brühwarm.
Außerdem kann ich die freundlich angebotenen Becher ohnehin nicht
ablehnen, ohne den Hausherren tödlich zu beleidigen, also lieber mal
den Magen schön langsam dran gewöhnen als irgendwann ganz plötzlich von
Montezumas Rache heimgesucht zu werden. Das ist zumindest meine Logik,
die ich mir so ausgesponnen hab, und bisher ist's auch gutgegangen.
Die Landschaft entschädigt einen voll und ganz für die vielen Mühen:
Über die grünen Hügel verteilen sich entlang der Piste viele kleine
Bauernhöfe, auf denen alles mögliche an tropischen Gewächsen gedeiht,
der dichte Regenwald ist nie weiter als zwei- oder dreihundert Meter
von der Straße entfernt. In diesem Teil Brasiliens gibt es nur sehr
wenige der riesigen Fazendas, die sonst üblich sind und die für ein
paar Kühe gigantische Flächen kahl schlagen. Hier hat jede Familie, der
von der Regierung zum Siedeln an der Transamazonica bewegt werden
konnte, für ein paar Mark ein Stück Land bekommen, auf dem sie jetzt
mehr oder weniger für ihre Eigenversorgung wirtschaften.
Dementsprechend vielfältig ist auch die Produktpallete und es gibt nur
relativ wenige Monokulturen.
Ich glaube, die Streifen Land, die jeder entlang der Straße oder einer
der vielen Stichstraßen rechts oder links bekommen hat, waren jeweils
500 Meter breit und etliche Kilometer tief. Ungefähr jedes zweite
Grundstück war bereits wieder verlassen oder niemals besiedelt, d.h.
man kommt so an ein bis zwei Hütten pro Kilometer vorbei, dazwischen
immer wieder Sekundärwald, und ab und zu auch mal ein Stück, das noch
richtig ursprünglich ausschaut und die ganze Straße überragt.
Flüsse, Bäche und Seen gibt es in ausreichender Zahl, und mindestens
einmal pro Stunde gönne ich mir eine kurze Abkühlung.
Dazu bevorzuge ich nach Möglichkeit natürlich die Stellen, die auch von
den Einheimischen benutzt werden, zu erkennen entweder an einem kleine
Steg zum Wäsche waschen und reinspringen, oder an den vielen Kindern,
die sich dort meistens herumtummeln.
Alle anderen Ecken sind in diesen Breitengraden mit Vorsicht zu
genießen, zumindest wenn man wie ich als Stadtmensch und Sesselfurzer
keine Ahnung hat, welches Getier sich wo bevorzugt herumtreibt. Nette
Tierchen wie zum Beispiel Jacaré (Alligatoren), Puraques (Zitteraale), die
berühmtberüchtigten Piranhas, diverses Gewürm das sich unter die Haut
bohrt und vieles mehr.
Irgendwo sitze ich gerade wieder mal auf einer dieser waaghalsigen
Brückenkonstruktionen, diese Meisterwerke der Baukunst, bei denen man sich
nie
so ganz sicher sein kann, ob man auch unbeschadet drüben ankommt. Ich
lasse die Beine nach unten baumeln und überlege gerade ob ich mal kurz
reinspringen soll, als ich die beiden großen Augen sehe, die mich von
knapp über der Wasseroberfläche aus anstarren: Ein Jacaré, der hier
wohl gerade auf sein Mittagessen wartet. Ich habe oft genug "Crocodile
Dundee" gesehen. Mein Messer ist zwar größer aber ich fahre trotzdem
lieber weiter...
Die Nacht bricht in den Tropen schnell herein. Schon ein paar Minuten
nach Sonnenuntergang ist es stockfinster. In den letzten Tagen habe ich
einiges dazugelernt. Anstatt mich im Wald zu verstecken und mühsam
Platz für mein Zelt zu schaffen fahre ich jetzt nach Möglichkeit immer
in irgendeinen Hof und bitte um Erlaubnis, mein Zelt irgendwo vor der
Hütte aufschlagen zu dürfen. Kein einziges Mal werde ich dabei
weggeschickt, nicht einmal irgendwelchen skeptischen Fragen muss ich
Rede und Antwort stehen. Ich bekomme natürlich schon Löcher in den
Bauch gefragt, aber nicht aus inquisitorischen Gründen, um meine
ehrlichen Absichten zu prüfen, sondern eher aus Neugier, und dann auch
erst nachdem man mir einen Platz zum schlafen zugewiesen und mich zum
Abendessen reingebeten hat.
Dies alles geschieht hier mit einer Selbstverständlichkeit, als ob man
seit Jahren zur Familie gehören würde. Man stelle sich einmal vor was
bei uns zuhause los wäre, wenn jemand verstaubt, verschwitzt und mit
anderer Hautfarbe an der Tür klingelt und mit komischem ausländischen
Akzent fragt ob er vielleicht sein Zelt im Vorgarten aufstellen
dürfe...
Neben einem Abendessen wird mir meistens sogar noch ein Platz zum
schlafen im Haus angeboten. Das Essen nehme ich natürlich sehr gerne
an, aber anstatt die Kinder aus ihrem Bett zu vertreiben schlage ich
dann doch lieber das Zelt auf. Das Abendmahl ist meistens recht schlicht,
aber immer noch besser als mein Reis mit Tomatensuppe, den ich sonst
auf meinem Kocher gemacht hätte. "Bezahlen" kann ich mit Keks- und
Schokoladenpackungen, oder auch mal einer Flasche Cola, die ich in
unbeaufsichtigten Momenten an die Kinder verteile, denn
selbstverständlich würde sich keiner meiner Gastgeber erniedrigen, für
seine Gastfreundschaft irgendwelche Gegenleistungen anzunehmen.
Bis Itaituba, also knapp die ersten 1000 Kilometer der Transamazonica,
verläuft parallel zur Straße sogar eine Stromleitung, jedoch können
sich die wenigsten einen Anschluss leisten. Die Häuser haben meistens
weder Strom noch fließendes Wasser. Als Lichtquelle dient eine Kerze
auf dem Küchentisch und Wasser kommt aus dem Brunnen oder dem nächsten
Bach.
Irgendwie scheint man mich tatsächlich schon überall zu kennen.
Spätestens nach dem zweiten Tag auf der Transamazonica hat sich die
Kunde von einem Verrückten auf einem Bicicleta auch bis in die letzte
Hütte auf diesem Teilstück herumgesprochen.
Die Straßenverhältnisse werden von Tag zu Tag schlimmer. Schlaglöcher
sind für Radfahrer normalerweise kein Problem. Bei niedrigen
Geschwindigkeiten und auf zwei Rädern könnte man sie normalerweise
locker umfahren. Wenn man sie denn sehen könnte, denn die ganze Straße
ist nach mehreren Tagen ohne Regen mit einer dicken Staubschicht
bedeckt. Dieser Staub ist ein so feines Pulver das er wie Wasser zur
Seite spritzt, wenn man drüberfährt. Er deckt einfach alles zu und
bildet eine glatte Oberfläche. Schlaglöcher oder, noch gefährlicher,
parallel zur Fahrtrichtung verlaufende ausgewaschene Rinnen lassen sich
nur erahnen, und mehr als einmal sackt mir plötzlich das Vorderrad weg.
Der Staub dringt einfach überall ein, in Mund, Nase, Ohren, Gepäck und
Kugellager. Zusammen mit dem Öl und Fett ergibt er eine hervorragende
Schleifpaste auf der Kette und man glaubt schon fast zusehen zu können,
wie die Zahnkränze immer dünner werden.
Was los ist, wenn ein LKW vorbeidonnert kann sich glaube ich jeder
vorstellen. Der Anblick eines heranbrausenden Lasters ist beängstigend.
Man kann nur noch das Führerhaus sehen, der ganze Rest verschwindet in
den Staubwolken, die zu allen Seiten herausquellen und den LKW gleich
nochmal um ein vielfaches größer erscheinen lassen. Da hilft dann nur:
rechts heranfahren, tief durchatmen, dann die Luft anhalten und den
Kopf einziehen, wenn das Monster vorbeirumpelt. Nach ein oder zwei
Minuten kann man wieder etwas sehen, aber bis sich der Staub soweit
gelegt hat, das man wieder ohne kratzen im Hals atmen kann dauert es
etliche Minuten länger. Dummerweise fahren auch die Trucker selbst
nicht gerne im Dreck ihres Vorgängers, und so halten sie zum
Vorausfahrenden immer genau den Abstand ein, nach dem man wieder
einigermaßen frei sehen oder atmen kann. Das heißt für mich, kaum
kriege ich wieder Luft kommt auch schon der nächste, bis endlich der
gesamte Konvoi vorbei ist. Zumindest hat man danach für eine ganze
Weile Ruhe, bis wieder mal was kommt.
Schließlich erreiche ich den Rio Xingu, und kurz darauf auch Altamira,
die einzige Stadt, die diese Bezeichnung auch verdient, seit ich
Tucurui verlassen habe.
Der Rio Xingu hat sehr klares Wasser und zumindest außerhalb der
Regenzeit breite Sandstrände. In ihm wimmelt es nur so vor Fischen, und
beim schwimmen wird man ständig von kleinen Fischchen belästigt, die an
einem herumknabbern wollen. Nach anfänglicher Skepsis lasse ich mich
überzeugen, das das Ganze völlig harmlos ist, irgendwie lustig, wenn
man beim schwimmen ständig gekitzelt wird...
Bekannt ist der Rio Xingu jedoch weithin für die Indianerstämme, die an
seinen Ufern und an den Nebenflüssen siedeln. Sie gehören zu den
wenigen, die auch nach dem Eindringen der "Zivilisation" ihre Kultur
bewahr haben, und immer wieder erfolgreich die ihnen zustehenden Rechte
einklagen.
In Altamira gibt es eine Außenstelle der FUNAI, also der
brasilianischen Indianerbehörde, wo die Indios ihre Behördengänge
erledigen oder ärztliche Behandlung bekommen, wenn die Künste des Pajés
nicht mehr weiterhelfen.
Sie scheinen mit der "Zivilisation" recht unverkrampft umzugehen. Sie
machen wie alle anderen Schaufensterbummel, gehen einkaufen, fahren Bus
und Taxi, aber sie laufen eben nur in Shorts herum, sind von oben bis
unten bemalt oder tätowiert, und unterm Arm haben sie ihren Bogen oder
ihr Blasrohr geklemmt, nebst zugehörigen Giftpfeilen. Faszinierend,
bisher glaubte ich immer, man hätte es erfolgreich geschafft, alle
"Wilden" zu entwutzeln und zu Alkoholikern zu machen.
Die nichtindianischen Brasilianer scheinen nicht sonderlich viel von
ihnen zu halten, sie halten sie wohl mehr für unzivilisierte Wilde und
Schmarotzer und gehen ihnen lieber aus dem Weg, aber es gelingt mir,
auf der Strandpromenade (Ja, so was gibt's dort wirklich) einen Indio
in ein kurzes Gespräch zu verwickeln. Er wohnt "zwei oder drei Tage"
flussaufwärts und hat hier irgendwas mit der FUNAI zu erledigen. Leider
traue ich mich dann aber doch nicht, um Erlaubnis für ein Foto zu
bitten.
Irgendwann in den vergangenen Tagen scheine ich mir einen ordentlichen
Sonnenbrand geholt zu haben. Mein rechter Handrücken ist knallrot und
juckt wie verrückt. Das ist doch recht eigenartig. Zum einen schmiere
ich mich mehrmals täglich mit 50er Sonnencreme ein, dazu kommt noch die
dicke Staubschicht, die eigentlich auch als vorzüglicher Sunblocker
wirken sollte. Und warum ist das ganze so regional auf einen großen
Fleck auf der Hand begrenzt?
In brasilianischen Apotheken bekommt man von Aspirin bis Viagra so gut
wie alles, und das natürlich auch ohne ärztliches Rezept. Dafür kennen
sich die Apotheker bisweilen recht gut aus, sozusagen als Arztersatz.
Von den vielen Apotheken, die sich in der Hauptstraße aneinander reihen
wähle ich die vertrauenserweckendste aus.
Ob er denn irgendwas gegen starken Sonnenbrand hätte, möchte ich
wissen, und werde daraufhin erst mal ausgelacht, warum wir Käsköpfe uns
denn immer stundenlang in die Sonne stellen würden, wenn wir's eh nicht
vertragen würden und so. Offenbar eine ganz normale Gegebenheit in
Brasilien: Da hier von weiß über rot und gelb bis hin zum tiefsten
Schwarz alle Farbschattierungen vorkommen, darf man ganz unverkrampft
Witze über des anderen Hautfarbe reißen, ohne gleich des Rassismus
bezichtigt zu werden.
Es folgt ein Vortrag über das Wetter und die Stärke der
Sonneneinstrahlung in diesen Breiten, gefolgt von Beileidsbekundungen
zum gegenwärtigen Zustand der Fußball-Nationalmannschaft, nachdem der
Apotheker erfährt das ich Deutscher bin. Die Erwähnung des blamablen
WM-Endspiels gegen Frankreich bringt ihn zum Schweigen.
Die Diagnose "Sonnenbrand" wird dann aber doch noch revidiert. Nach
einem kurzen Blick auf meinen armen Arm erfahre ich, das ich wohl einem
Giftgasangriff zum Opfer gefallen sei: Irgendeine Käferart - Potó genannt -
versprüht bei Bedrohung eine übelriechende Substanz, die sonnenbrandähnliche
Verbrennungen hervorruft, wenn man sie nicht sofort abwäscht. Jetzt wo's der
Apotheker sagt glaube ich mich düster
an einen großen schwarzen Brummer erinnern zu können, der mich vor
kurzem während der Fahrt gerammt und vollgestunken hat. Blödes Viech.
Die Gegenmaßnahme ist die gleiche wie bei Sonnenbrand, also eine Salbe,
"sauber halten und keine Sonne mehr". Wie soll ich das nur machen?
Vor der Weiterfahrt gönne ich mir erst noch einen Ruhetag in Altamira.
Nach längerem erfolglosem Suchen finde ich dann sogar noch einen
Internetanschluss, und während ich noch vor mich hintippe laufen
draußen zwei Indios vorbei, mit einem kurzen mitleidigem Lächeln für
die armen Leute, die ihr ganzes Leben hinter grauen Kisten verbringen
müssen, um ihre Brötchen zu verdienen.
Das war Rio Tocantins bis zum Rio Xingu. Der nächste Teil ist vom Rio
Xingu zum Rio Tapajós, 500 Kilometer, wo ich die nächste Stadt
nennenswerter Größe erreichen werde, Itaituba.
Até logo
Micha
<-- weiter mit Teil 3